Schwamm drüber
Juni 2013: Gescheiter(t)?

Ratlos stehe ich vor einer unlösbaren Aufgabe. Dies soll der letzte Text der Kolumne «Schwamm drüber» werden, denn mit Beginn des neuen Schuljahres erfährt die letzte Seite dieser Zeitschrift eine völlig neue Konzeption. Und damit beginnen meine Probleme: Ich soll den Abschluss schreiben, den finalen Text, der alles vollendet. Nach diesem letzten Text soll alles gesagt sein, nach dem Punkt am Ende des letzten Satzes soll keine Frage unbeantwortet sein.

Bedenken Sie, liebe Leserin, lieber Leser, was das für mich bedeutet: Nur noch dieser letzte Text fehlt Ihnen, um die Aussagen aller vergangenen 29 Texte komplettieren zu können, nur noch dieser Text fehlt Ihnen zur Vollendung, und er muss so brillant sein, dass Sie um nichts auf der Welt auf ihn verzichten mögen. Er muss so bedeutsam sein, dass nach all den Vorbereitungen der letzten 29 Texte Sie genau diese letzten Worte noch benötigen, um dann irreversibel in einem Zustand höherer Weisheit anzukommen.

Die Spannung spitzt sich ebenso zu wie bei einem Puzzle, das sich der Vollendung nähert, aber erst nach Einsetzen des allerletzten Puzzle-Stücks ein klares und vollständiges Bild ergibt. Was für ein Anspruch! Was für ein Irrsinn! Wie nur kann mein letzter Text diese Bedingungen auch nur annähernd erfüllen? Was muss jetzt noch gesagt werden? Was ist gerade jetzt so wichtig? Welches Argument rundet alle Argumente der vergangenen 29 Texte ab? Welche magischen Worte bringen den Zauber zur Vollendung? Ich habe sehr viel über Schule und Unterricht geschrieben, über Unterrichtsmethoden und die Resultate der Lehr- und Lernforschung, über die zahlreichen Aspekte der Lehrtätigkeit und den Umgang mit Jugendlichen, über Weiterbildung und Schulkultur. Und nun soll ich das einzige Puzzlestück finden, welches in dem Bild, das die vergangenen 29 Texte zeichnen, noch fehlt. Was zeigt es? Wie soll es zugeschnitten sein? Wo finde ich es bloss? Welcher allerletzte Rat vermag Ihnen, meinen Leserinnen und Lesern, den letzten Schliff zu verleihen? Welche Bemerkungen können Ihnen Geleit und Schlüssel sein in den ersten Tag Ihres künftigen Lebens? Welche Sätze ziehen einen würdigen Vorhang über diese Kolumne?

Schwamm über Schwamm drüber

Die ungeheure Bedeutung dieses letzten Textes wird mir bewusst, und ich erschauere und fühle mich hilflos, mein Kopf ist eine überhitzte Glühbirne, und Schweiss rinnt an meinen Schläfen hinab. Und durch meine Ratlosigkeit frisst sich ein grausamer Verdacht: Ich kann das nicht. Ich werde scheitern, ich muss scheitern. Ich kann diesen letzten Text nicht schreiben. Meine bescheidenen Kräfte reichen hierfür einfach nicht aus. Ich schaffe das nicht, obwohl die Konsequenz dieses kolossalen Scheiterns eine monströse Paradoxie sein wird: Die Kolumne wird keinen letzten Text haben. Ihr hässliches, offenes Ende wird für immer fragend in die Welt hinausstarren. Eine angsteinflössende Fratze wird für immer von der Wandtafel hinabglotzen. Ich sehe nur noch einen letzten Ausweg, um die Kolumne Schwamm drüber abschliessen zu können: Jemand muss mit einem nassen Schwamm darüber fahren. Dann ist sie weg.