Schwamm drüber
Mai 2013: Ausweichmanöver

Darf ich Ihnen zuerst ein paar Miniaturen erzählen, die sich so oder wenigstens fast genauso an verschiedenen Schulen zugetragen haben?

1) Zwei Lehrpersonen desselben Faches hatten in den Zeugnissen Notendurchschnitte von deutlich über 5, und zwar nicht nur ausnahmsweise, sondern auffallend oft. Was tat die Schulleitung, als sie davon erfuhr? Sie liess Lektionen ausfallen und verbrummte die ganze Lehrerschaft zu einer Weiterbildungsveranstaltung, an der «Experten» zum Thema Notengebung sprachen.

2) Eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern fiel im Unterricht einer Lehrperson immer wieder durch Störaktionen und unflätiges Benehmen auf. Was tat die Klassenlehrerin, als sie davon erfuhr? Sie liess Lektionen ausfallen und verbrummte die ganze Klasse zu einer Sitzung mit einem Vertreter des schulpsychologischen Dienstes.

3) Einzelne Schülerinnen und Schüler erschienen immer wieder zu spät zum Unterricht. Was tat die Lehrperson? Sie liess eine Lektion ausfallen und lud die ganze Klasse zu einem von der Schulleitung moderierten Gespräch zum Thema Zuspätkommen ein.

4) Einzelne Lehrpersonen einer Schule erhielten über Jahre schlechte Kritiken von Lernenden. Was tat die Schulleitung, nachdem ihr das wiederholt zu Ohren gekommen war? Sie verordnete der ganzen Schule ein Qualitätsmanagementsystem, bei dem alle Lehrpersonen einander gegenseitig im Unterricht besuchen und über das Beobachtete diskutieren müssen.

Die Kunst, Unangenehmes zu kommunizieren

Sehen Sie die Gemeinsamkeiten? Alle Miniaturen erzählen von Ausweichmanövern. Probleme werden erkannt, und es findet auch eine Reaktion statt, aber die Reaktion ist ausweichend, die ganze Schlagkraft der Reaktion zielt weg vom Haupt- und hin zu einem Stellvertreterschauplatz. Ist Angst der Stratege solcher Manöver? Ist es Feigheit? Unsicherheit? Ich frage mich immer wieder, was Menschen dazu bewegt, sich bei Problemen nicht an diejenige Adresse zu richten, die die Quelle des Problems ist, sondern eine Globallösung anzustreben, die die Mehrheit der Beteiligten verärgert und das Problem nur in den seltensten Fällen löst?

Warum hat in der Miniatur 1 die Schulleitung nicht das direkte Gespräch mit den beiden Lehrpersonen gesucht und versucht, diesen unüblich hohen Notenschnitten auf den Grund zu kommen? Warum wurde in Miniatur 2 die Klassenlehrerin überhaupt eingeschaltet? Warum hat die betroffene Lehrperson nicht das direkte Gespräch mit den Störenden gesucht und klare und gut begründete Regeln für die künftigen Lektionen aufgestellt? Ebenso in Miniatur 3. Und warum hat die Schulleitung in Miniatur 4 nicht das direkte Gespräch mit den betroffenen Lehrpersonen gesucht und sie, falls sich die Vorwürfe bestätigt hätten, allenfalls mentorieren lassen?

Solche Ausweichmanöver findet man überall, nicht nur an Schulen. Und nicht selten verursachen sie einen deutlich höheren zeitlichen Aufwand für alle Beteiligten und führen zu unnötigen Reglementierungen. Wenn wir uns doch nur alle wieder vermehrt in der Kunst des klaren, direkten, ehrlichen, respektvollen, nicht beschönigenden und nicht ausweichenden Gespräches üben würden!