Schwamm drüber
Mai 2013: Vexierbilder

«Wir kommen einfach nicht voran!», beklagte sich kürzlich Céline, eine Schülerin, über ihren Mathematikunterricht. Der Zufall will es, dass ich sowohl Céline als auch ihren Lehrer gut kenne. Céline sagte wiederholt, sie und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler kämen in der Mathematik einfach nicht voran. Ihr Lehrer aber erzählte mir, welche Kapitel er bereits behandelt hatte, und daraus schloss ich, dass er sogar besonders schnell vorankam, schneller jedenfalls als ich. Das fand ich merkwürdig. Was stimmte denn jetzt? Kennen Sie dieses berühmte Vexierbild, in dem man je nach Betrachtungsweise eine alte oder auch eine ganz junge Frau erblicken kann? Oder das andere von Dali, das entweder einen Totenkopf zeigt oder zwei Tänzerinnen mit hochgezogenen Röcken? Ganz ähnlich war es hier: Ein und dieselbe Situation wurde von Céline und von ihrem Lehrer ganz unterschiedlich gesehen. Rückfragen zeigten, dass, wie so oft bei Missverständnissen, das Problem in der Sprache zu suchen war.

Was heisst denn schon «vorankommen»? Der Lehrer kam schnell voran, weil er schon mehr Kapitel als erwartet behandelt hatte. Céline aber kam nicht voran, weil sie weit davon entfernt war, die Stofffülle zu beherrschen. Sie meinte stillzustehen, weil sie kaum mehr konnte als vor zwei Monaten. Während der Lehrer vorankam, baute er seinen Vorsprung immer weiter aus, und hätte er sich umgesehen, hätte er die Klasse wohl hinter der letzten Biegung verloren. Weitere Rückfragen machten klar, dass Céline vor allem deshalb kaum vorankam, weil sie sehr wenig selber leisten durfte. Das Lehren von Inhalten stand im Vordergrund, aber nicht der Lernprozess der Jugendlichen. Selbsterklärungsaufgaben waren freiwillig und wurden daher kaum gelöst, obwohl die Klasse dabei besonders viel lernen

würde. Anspruchsvolle Aufgaben wurden vom Lehrer erklärt, aber nicht von den Lernenden. So war eigentlich der ganze Unterricht ein Vexierbild, weil ein Betrug darin verborgen war. Die Klasse sah den Totenkopf, der Lehrer sah die Tänzerinnen.

Weniger konsumieren, mehr aktiv leisten

Vexierbilder können Spass machen, weil es Freude bereitet, den Betrug zu durchschauen. Unterricht aber sollte nie ein Vexierbild sein; es sollte sich ungefähr dasselbe Bild ergeben, ob man den Unterricht als Schülerin oder als Lehrer beurteilt. Gemalt ist dieses Bild vor allem mit den Leistungen der Lernenden, ihren Voten, ihren Ideen, ihren Erklärungsversuchen, ihren Lösungsvorschlägen, ihren Fehlern und Fortschritten. Und deswegen sollten die Lernenden weniger passiv konsumieren und mehr aktiv leisten. Gerade kürzlich hat eine Studie wieder eindrücklich belegt, welchen Vorteil es haben kann, wenn man Lernenden die Gelegenheit gibt, sich selber konstruktiv mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Es ging dabei um das Chemielernen mit Hilfe einer dynamischen Lernsoftware, und es stellte sich ganz deutlich heraus, dass diejenigen Jugendlichen im Vorteil waren, die das Gelernte überdies noch reflektierten und von Hand auf Papier «nachkonstruierten». Auch Céline sollte im Unterricht mehr selber leisten können, und dem Lehrer müsste es ein Anliegen sein zu erfahren, wie sie denkt und arbeitet, welche Fehler sie noch macht und wie sie mit den neuen Stoffen umgeht. Dann verschwindet der Totenkopf, und beide Seiten sehen die Tänzerinnen mit den hochgezogenen Röcken.