Schwamm drüber
März 2013: Schwierige Fragen

Es ist so einfach, schwierige Fragen zu stellen! Wenn man die Nachkommastellen der Eulerschen Zahl e aufreiht, also e = 2.7182818284…, welches sind dann die ersten zehn aufeinanderfolgenden Ziffern, die eine zehnstellige Primzahl bilden? Das ist eine irrsinnig schwierige Frage. Die Firma Google hat sie 2004 dazu benutzt, um gute Programmierer zu rekrutieren. Nur, wer die Zahl fand, konnte genau diese zehn Ziffern, gefolgt von «.com» eingeben, um so auf die Webseite mit dem Stellenbeschrieb zu gelangen. Damit war garantiert, dass sich nur sehr intelligente Personen bewerben konnten. (Die gesuchte Zahl beginnt übrigens an der 101ten Stelle nach dem Komma.)

Schwierigen fachlichen Fragen begegnen Lehrpersonen im Alltag jedoch kaum je. Nicht selten sind sie Kuratoren längst abgelegten Wissens, stellen alle Fragen selbst und wissen die Antwort natürlich im Voraus. (Und die Lernenden sollen genau diese Antworten aufspüren wie clever versteckte Ostereier.) Und das hat nicht unerhebliche Nachteile. Zum einen läuft man Gefahr zu vergessen, dass man selber unglaublich Vieles nicht weiss. Wissen Sie zum Beispiel, wie man die Schmelzenergie von Eis bestimmt? Oder was man unter der Sensitivität eines Brustkrebs-Screenings versteht? Oder wie man einer gewundenen Fahrradspur in weichem Boden ansehen kann, ob das Fahrrad von links nach rechts oder von rechts nach links gefahren ist? Bis vor kurzem wusste ich das alles auch nicht, aber ich habe es recherchiert und/oder darüber nachgedacht, weil ich danach gefragt worden war. Und es war unerhört lustvoll, etwas Neues zu lernen. Freilich mag man das alles für unnötigen Ballast halten, aber es lässt doch erahnen, welche Ausmasse das Gebirge des «Nicht-Gewussten» hat verglichen mit der Anhöhe des gesicherten Wissens.

Die Fragen sind der Motor des Lernens
Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass man sich selber kaum noch herausfordert. Wer immer nur Fragen stellt und die Antworten im Voraus kennt, verlernt, wie man Probleme anpackt, die gänzlich neu sind. Von Schülerinnen und Schülern verlangen wir aber genau das jeden Tag. Dabei wäre es gerade für Lernende besonders instruktiv zu sehen, wie Fachleute Probleme angehen, die auch ihnen neu sind. Dazu darf man aber neuen Fragen keineswegs ausweichen, sondern sollte sie ganz herzlich umarmen. Ein dritter Nachteil besteht wohl darin, dass Menschen unsympathisch wirken, die immer auf alles eine Antwort wissen, die nie ins Grübeln kommen. Vielleicht hat Bertolt Brecht daran gedacht, als er in Geschichten vom Herrn K. schrieb: «Ich habe bemerkt», sagte Herr K., «dass wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch, dass wir auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda eine Liste der Fragen aufstellen, die uns gänzlich ungelöst erscheinen?» Eine der vielen Qualitäten einer guten Lehrperson besteht also wohl darin, dass sie sich immer wieder in aller Bescheidenheit bewusst macht, was sie alles nicht weiss, und dass sie offene Probleme zulässt und genauso anpackt, wie sie das täglich von den Schülerinnen und Schülern erwartet. Und dass sie eine Liste gänzlich ungelöster Fragen aufstellt, an denen sich immer wieder die intellektuelle Neugier entzündet.