Schwamm drüber
Februar 2013: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Wirklich?

Viele Menschen mögen einfache Antworten. Und Politikerinnen und Politiker scheinen geradezu vernarrt in solche zu sein. Kürzlich behauptete eine Berner Politikerin allen Ernstes, Jugendliche seien vor neun Uhr morgens grundsätzlich nicht leistungsfähig. Um dann daraus zu schliessen, dass Unterricht nicht vor neun Uhr starten solle. Im gleichen Atemzug meinte sie sogar, damit das allmorgendliche Gequetsche in den öffentlichen Verkehrsmitteln auflockern zu können; sie warte nur noch auf die Zusage einer Pilotschule, um den positiven Effekt nachweisen zu können. Ich freue mich schon unbändig auf die Studie, die die Entlastung des gesamten öffentlichen Verkehrs im Berner Ballungsraum nachweisen soll, wenn eine einzige (!) Schule erst um neun Uhr startet.

Universelle Zeitintervalle der Leistungsfähigkeit und solche der Leistungsunfähigkeit gibt es natürlich nicht. Ob und wann ein Mensch leistungsfähig ist, hängt wesentlich von seinem Schlaf-, Ess- und Arbeitsverhalten ab. Leistungsfähig kann man auch morgens um fünf sein; man muss nur die richtigen Vorkehrungen treffen. Ebenso einfach und ebenso falsch ist, was man häufig im Zusammenhang mit Frühförderung hört. Da hört man, es existierten «Phasen im Heranwachsen», in denen gewisse Lernprozesse unbedingt stattfinden müssten, so als würde irgendwann der allerletzte Schnellzug in Richtung Lernerfolg abfahren, und wenn man nicht frühzeitig auf ihn aufspränge, ergäbe sich nie mehr eine ähnlich günstige Gelegenheit. Mit einem Argument wie diesem zwingt man dann Ruthchen und Hänschen zu Frühförderkursen oder frühfremdsprachlichem Unterricht. Aber: Das Bonmot «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» mag noch so oft repetiert werden, wahrer wird es dadurch nicht.

Lernen ist an keinen Fahrplan gebunden
Sensible Phasen des Lernens gibt es so wenig wie sensible Zeitintervalle für Leistungsfähigkeit. Ein gesundes Hirn kann in jeder Phase des Lebens lernen. Bis heute gibt es keine Studie, die den Vorteil von Frühenglisch oder Frühfranzösisch belegt; die Erfahrungen zeigen, dass Kinder, die nicht in diesen frühen Schnellzug geschubst werden, schnell und reibungslos Verpasstes nacharbeiten können und bald mit den Vorauseilenden gleichziehen. Oder, in den Worten der Lernforscherin Elsbeth Stern: «Bis heute fehlen die Belege, dass Frühförderung wirklich nachhaltige Auswirkungen auf den Erfolg des Kindes hat.» Ich selber habe im Alter von 45 mein Englisch, das vorher etwa First-Niveau hatte, durch Lernen auf das Proficiency-Niveau angehoben; und mein Lernen unterschied sich in keiner Weise von den Lernerlebnissen im Kindesalter. Ein 48-jähriger Kollege von mir lernt zurzeit Reiten und ist überaus erfolgreich darin. Und meine Mutter lernte im Pensionsalter zum ersten Mal Spanisch, betrieb dabei etwa denselben Aufwand, den eine Jugendliche in jahrelangem Sprachunterricht betreibt, und erreichte auch ein vergleichbares Niveau. Das menschliche Gehirn ist eine Lernmaschine, und es verlernt diese Fähigkeit, sofern es gesund bleibt, im Laufe des Lebens nicht. Wo immer Frühförderung thematisiert wird, sollten wir besonders kritisch zuhören. Kinder und Jugendliche dürfen nicht die Leidtragenden sein, bloss weil Bildungspolitikerinnen und -politiker einfache Antworten mögen.