Schwamm drüber
Dezember 2012: Wunschzettel eines 50-jährigen Schülers

«Finden Sie nicht auch, dass er es gut gemacht hat?» Diese Frage von Nadine, einer meiner Schülerinnen, überrumpelte mich ein wenig, so dass ich nur so etwas wie «Ja, das kann man schon sagen» antwortete. Erst später fiel mir ein, dass ich viel eher hätte antworten sollen: «Nein, gar nicht, es überrascht mich, dass Sie das so sehen. Die Lektion hatte doch ganz erhebliche Mängel.» Nadine hatte Bezug genommen auf die Lektion eines Stellenbewerbers, die kürzlich in meiner Klasse stattgefunden und der ich beigewohnt hatte.

Der Unterrichtsgegenstand waren die Fraktale gewesen. Das sind atemberaubend schöne geometrische Objekte mit einem hohen Grad an Skaleninvarianz, die häufig in der digitalen Kunst vorkommen und zum Beispiel 1982 im Spielfilm «Star Trek II: Der Zorn des Khan» dazu verwendet wurden, Gebirgslandschaften zu modellieren. Die Lektion hatte aber keine klare Zielsetzung, keine prägnante, anregende Frage, keinen deutlichen «Drift».

Wäre ich Schüler dieser Klasse gewesen, hätte mir der Lehrer auf folgende Fragen keine befriedigende Antwort gegeben: Weshalb sind Fraktale bedeutsam? Weshalb und inwiefern wäre es für mich nachteilig, wenn ich diese Lektion verpassen würde? Was ist an diesem Unterrichtsgegenstand spannend? Was kann oder verstehe ich nachher besser, was ich jetzt noch nicht kann oder noch nicht verstehe? Was ist der tiefere Grund, weshalb wir nun alle 45 Minuten lang in diesem Raum zusammenarbeiten?

Anspruchsvolle Schüler erwünscht
Zugegeben, ich wäre heute ein unerträglicher Schüler. Kritisch. Hartnäckig. Fordernd. Ich könnte jedes Mal vor Ungeduld in eine Tischkante beissen, wenn ich sehe, wie Lehrpersonen manchmal irgendetwas einfach nur deswegen unterrichten, weil es so in einem Buch steht, weil der Lehrplan es fordert oder weil sie es schon zehnmal so gemacht haben. Es muss bessere Gründe geben! Als Schüler möchte ich erfahren, wieso mich das Thema etwas angeht und inwiefern es mich voranbringt. Ich möchte mit guten Fragen konfrontiert werden. Und lustvoll erleben, wie ich erlerne, sie zu beantworten, denn das gibt mir das Selbstvertrauen, Weltausschnitte aus eigener Kraft verständig durchdringen zu können. Ich möchte bei der Lehrperson Begeisterung und Engagement spüren, denn das entflammt mich. Ich möchte ihre transparente Planung nachvollziehen können, denn das gibt mir Sicherheit. Ich möchte ihr kompromissloses Bemühen um meine Lernfortschritte wahrnehmen, denn dann fühle ich mich ernst genommen. Ich möchte darüber staunen, wie viel sie davon versteht, was guten Unterricht ausmacht, denn das gibt mir das Vertrauen, in genau die richtigen, lernwirksamen Tätigkeiten verwickelt zu werden.

Als 50-jähriger Schüler hätte ich heute einen langen und vielleicht unverschämten Wunschzettel an meine Lehrerinnen und Lehrer. Das zeigt auch, wie schwierig dieser Beruf ist. Und dass es den perfekten Lehrer wahrscheinlich nicht gibt. Dennoch sollte ich mich als 50-jähriger Lehrer immer an dem Wunschzettel orientieren, den ich als Schüler an meine eigene Arbeit hätte. Zum Glück ist Nadines Wunschzettel noch viel kürzer und weniger unverschämt. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn ich lauter Schüler wie mich selber vor mir hätte...