Schwamm drüber
November 2012: Weshalb Computer beim Lernen fast immer nicht helfen

Nicht selten werden Diskussionen um Schulentwicklung auf Felder verlegt, von denen kaum eine gewinnbringende Ernte zu erwarten ist. Anstatt alle Energie in das Bemühen zu leiten, möglichst gute Lehrkräfte zu finden, diskutiert man an Schulen auch schon mal darüber, wie Computer und Internet intensiver in die Ausbildungsgänge involviert werden können oder ob ganze Klassen mit Laptops oder iPads ausgerüstet werden sollen. Ist eine solche Diskussion sinnvoll?

Man muss nicht ICT-kritische Studien (von denen es sehr viele gibt) zitieren oder mit den Namen prominenter ICT-Kritiker (die es auch gibt) um sich werfen, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass Computer und Internet das Lernen nicht per se wirksamer machen; es genügt, sich einen typischen Lernvorgang vor Augen zu führen:
Angenommen, Sie möchten lernen, dass und weshalb die Summe der Reziproken der Quadrate aller natürlichen Zahlen gleich Pi zum Quadrat dividiert durch 6 ist. Das mag Ihnen Spanisch vorkommen, aber darum geht es ja beim Lernen: Lernen bedeutet, wenn es sich nicht um reines Faktenlernen handelt, sich Neues, bisher Unverstandenes verständlich zu machen, die Grenzen dessen, was man verständig durchdrungen hat, ein Stück weiter ins Neuland zu verschieben, indem man am Vorwissen «anbaut». Können Ihnen Computer und Internet dabei helfen?

Euler und Internet zum Verzweifeln
Sie können zwar im Internet tausend faktische Details und Meinungen über diese Formel nachlesen und zum Beispiel erfahren, dass der Beweis auf den grossen Leonhard Euler zurückgeht und dass diese Formel deshalb so verblüffend ist, weil sie eigentlich nur von ganzen Zahlen handelt, diese dann aber – welch überraschende Wende! – mit der Kreiszahl Pi in Verbindung bringt, was atemberaubend ist. Sie können ferner einige hundert Internetseiten besuchen oder Youtube-Videos anschauen, die mehr oder weniger korrekte Ausschnitte aus Eulers grandiosem Beweis zeigen. Dabei aber werden sie wahrscheinlich bald verzweifeln. Das Internet und jedes Lernprogramm können nämlich nicht, was jeder gute Lehrer kann: Es kennt Ihr Vorwissen und Ihre Fehlvorstellungen nicht, es kann nicht auf Ihre Schwierigkeiten eingehen, es kann das Material nicht so präsentieren, dass gerade Sie optimal damit lernen können. Sie können natürlich in einem Online-Forum Fragen platzieren, aber die meisten Antworten werden nicht auf Ihr Vorwissen Rücksicht nehmen.

Wenn Sie dann auf irgendeine Weise gutes Lernmaterial gefunden haben, dann beginnt Ihr Lernen erst. Denn jetzt müssen Sie sich die Frage zu eigen machen und Motivation dafür schaffen. Was genau besagt die Formel eigentlich? Was heisst das? Was ist daran bemerkenswert? Warum wollen Sie mehr darüber erfahren? Dann müssen Sie die Herleitung der Formel Schritt für Schritt verstehen und sich selber erklären und dabei Puzzlestück für Puzzlestück so zusammenfügen, dass ein für Sie klares, aufschlussreiches Bild entsteht und bis sich in Ihnen die tiefe Freude breit macht darüber, etwas wirklich durchdrungen und einem Genie über die Schulter geschaut zu haben und das erst noch mit einem verständigen Nicken. Und damit werden Sie wirklich etwas gelernt haben. Den Computer oder das Internet werden Sie dabei nicht oder höchstens am Rand verwendet haben.