Schwamm drüber
Oktober 2012:Windschutz

Soll man die zweite Gotthardröhre bauen? Kann man mit kohlenhydratfreier Ernährung wirklich das Altern verlangsamen? Soll die Schweiz aus der Atomenergie aussteigen? Belegen die neusten Experimente am CERN wirklich die Existenz des Higgs-Teilchens? Soll Israel aus der Siedlungspolitik aussteigen? Hat Anselm von Canterbury wirklich die Existenz Gottes bewiesen? Soll eine Lehrperson nach Methode X oder Y unterrichten? Wie Windböen im Sturm wehen uns im Laufe des Lebens unzählige Fragen entgegen. Viele halten wir von uns fern, indem wir ausweichen oder Schutz suchen und erklären, dass sie uns nichts angehen, anderen wollen oder müssen wir uns stellen. Und wenn wir uns stellen, suchen wir nach Argumenten. Wir hüllen uns in Begründungen, suchen festen Stand auf Fakten, imprägnieren uns gegen Gegenargumente, kneifen die Augen zu im Angesicht von Kritik. Wäre es also nicht überaus sinnvoll und nützlich, man würde in der Schule vermehrt das Argumentieren lernen? Als ich noch Schüler war, genoss ich meist einen Unterricht, den man heute altmodisch nennen würde: Der Lehrer dozierte und stellte einige Fragen, und wir Schüler (damals ausschliesslich Männer) durften gelegentlich kurze Antworten liefern.
Wir machten uns im besten Falle Fakten zu eigen, aber lernten die Zusammenhänge nicht, sondern hörten sie bloss, und wir alle wissen: Gehörte Worte sind «geflügelt », sie verwehen schnell in den zahlreichen Böen, die einen Jugendlichen erreichen. Wir argumentierten selten, begründeten wenig, nahmen kaum je Gegenstandpunkte ein.

Mit Fragen Argumente provozieren
In einer neuen Studie haben die Lehr- und Lernforscherin Christine Chin und ihr Kollege Jonathan Osborne argumentiert, wie wichtig es wäre, das präzise Argumentieren als Ziel allgemeiner Bildung zu etablieren. Die Lernenden sollten Hypothesen aufstellen und Wege finden, wie diese verifiziert oder falsifiziert werden können, sie sollten Gegenargumente neutral prüfen und allenfalls Strategien finden, um sie zu entkräften. Sie sollten lernen, ihre Aussagen sauber und basierend auf Evidenz zu begründen.

Wie könnte das im Unterricht etwa aussehen? Hier sind ein paar Beispiele von Fragen, die zu solchen Argumentationen anregen:
Weshalb soll man einen Flussabschnitt revitalisieren? Warum hat man früher viel Geld und Arbeit in die Begradigung eines Flusses gesteckt, wenn jetzt abermals Geld und Arbeit aufgewendet werden müssen zur Revitalisierung? Was für Argumente können für oder gegen eine Revitalisierung sprechen? Wie sieht die Temperaturkurve aus, wenn man Eis zu Dampf erhitzt? Stellen Sie eine Hypothese auf. Wie lässt sich das entscheiden? Und welche Argumente lassen sich für allfällige Besonderheiten der Kurve ins Feld führen? Ist die Zahl 3444+4333 durch 5 teilbar oder nicht? Wie lässt sich das einsehen? Mit welchen Argumenten kann ein mathematischer Laie von der Richtigkeit der Aussage überzeugt werden?
Fragen dieser Art sind kein Zeitverlust, im Gegenteil. Man erlebt dann, wie Jugendliche anfangen, sich in den Stoffen wohl zu fühlen, sie bewegen sich in ihnen gekonnt und eloquent, sie weichen den Winden nicht einfach nur aus, sondern lassen in ihnen ihre eigenen Drachen steigen…