Schwamm drüber
Oktober 2012: Was wollen wir wirklich wissen?

«Mein Name ist Zenon. Ich glaube, ich bin tot.»
«Erstens kennen wir deinen Namen längst, schon vor deiner Geburt haben wir ihn gekannt, und zweitens bist du tatsächlich tot, unwiderruflich.»
Der Torwächter wirkte verärgert, und ich fragte mich, ob das ein guter Start für mein Leben nach dem Tod sein würde.
«Entschuldigen Sie», sagte ich verunsichert, «ich habe eine solche Situation noch nie erlebt. » Und beim Wort «erlebt» biss ich mir fast auf die Zunge.
Der Torwächter überhörte das und sagte stattdessen: «Du warst Lehrer. Der letzte seiner Art, das Schlussglied einer Kette.» Und, nach einem Räuspern: «Ich nehme hier die Triage vor. Mal überlegen, wohin ich dich weiterleiten werde.»
«Gibt es denn da verschiedene Mö…?» Der Torwächter unterbrach mich schroff: «Wie fandest du denn dein Leben als Lehrer? Wenn man dich so ansieht, würde man nicht denken, dass es dir gefiel. Richtig verlebt siehst du aus.»
Dieser Scherz war mir denn doch zu billig, und ich fragte mich, ob der Torwächter ihn bei jedem Neuankömmling zum Besten gab.
«Nun», begann ich, «ich war orientierungslos, ja, das trifft es wohl am besten. Was sollte man noch lehren? Wissen Sie – ach ja, natürlich wissen Sie das – gelernt haben die Kinder ja nur noch, indem sie zahlreiche Apps direkt ins Gehirn geladen haben. Wozu brauchte man da noch einen Lehrer!? Und bei dieser Flut von Apps war eigentlich keinem Menschen mehr klar, was überhaupt wissenswert ist. Ich meine: Was wollen wir wirklich wissen? Was sind die Bildungsziele? Welche Erkenntnisse soll man unbedingt anstreben? Auf diese Fragen wusste kein Mensch mehr eine Antwort.»
Der Torwächter tippte irgendwas auf einem kleinen Bildschirm. Wie beiläufig fragte er: «War es nicht der Sinn der Lehrer, das in der Vergangenheit angesammelte Wissen weiterzugeben?»

Zusammengebrochen unter der Bürde des Wissens
«Wollen Sie mich ver…» Gerade rechtzeitig fiel mir ein, wie wenig eine solche Rückfrage zur Verbesserung meiner Lage beigetragen hätte. «Wissen Sie, spätestens seit der Wissensexplosion war es uns Lehrern gänzlich unmöglich, auch nur einen nennenswerten Prozentsatz des gesamten Wissens weiterzureichen. Schon als ich meine erste Lektion hielt, war alles, was ich lehrte, veraltet und überholt und das Wissen verglichen mit meiner eigenen Schulzeit tausendfach angeschwollen. Wir waren wie Stafettenläufer, die Lehrer der einen Generation gaben das Wissen an die Lehrer der nächsten Generation weiter, doch die Post wurde immer schwerer, und am Ende brachen wir unter der Last zusammen. Und ich war der letzte unter ihnen, chancenlos, das vorauseilende Wissen jemals einzuholen. Das versetzte den Lehrern den Todesstoss.»
«Wortwörtlich», grinste der Torwächter. Immerhin schien er nun plötzlich interessiert an meiner Person zu sein. «Willst du wieder Orientierung haben?», fragte er, «wissen, was wirklich wichtig ist? Wissen, was wir wirklich wissen wollen?» Und noch bevor ich antworten konnte, öffnete er das Tor, schubste mich in eine Liftkabine und drückte einen ganz bestimmten Knopf.