Schwamm drüber
Juni 2012: Der Kobold

Rubinrot, wuchtig und wie von innen herausleuchtend sah der Wein aus. Ich schwenkte das Glas gerade zärtlich aus dem Handgelenk und beobachtete, wie der Wein von innen der Glaswand entlang spülte, als ein Kobold auf dem Rand des Glases landete, dem Nichts entsprungen, nicht einmal zehn Zentimeter gross und in giftgrüne Kleidchen gehüllt. Er setzte sich auf den Glasrand, liess seine Beinchen ins Glasinnere baumeln und grinste mich frech an.

Oh nein, ich war nicht besoffen. Der Kobold war ganz real, und eigentlich hätte mich diese Tatsache schockieren sollen. Aber sie tat es nicht. Mit lächerlich hoher Stimme sagte er: «Na, du toller, bewundernswerter Kerl, bestimmt geniesst du den wohlverdienten Feierabend und sonnst dich in deinem Erfolg!?»

Vom Born der Weisheit
Darauf schien mir jede Antwort überflüssig. Er fuhr fort: «Hast du das Leuchten in den Augen der Jugendlichen gesehen, als du sie heute unterrichtetest? Du hast sie wieder begeistert und bereichert, gelenkt und geführt, du hast verkündet und erklärt, hast ihnen die Augen geöffnet auf die schöne, makellose Welt deiner Ideen.»

«Entschuldige mal», unterbrach ich, «von all den Ideen, die ich unterrichte, stammen nur die allerwenigsten…»
«Papperlapapp!», krächzte der Grüne, «was du getan hast, ist mit Geld nicht aufzuwiegen. Die Jugendlichen schauen zu dir auf, erschauern vor deinem Wissen, sie sind vom einzigen Bestreben getrieben, vom Born deiner Weisheit zu schlürfen.»
«Vom was?»
«Vom Born. Vom Brunnen, von der Quelle. Sicherlich kennst du dieses…»
«Was für ein Unsinn», rief ich, «wenn ich schon vom Wein geschlürft hätte, könnte ich ja verstehen, dass du hier auf dem Glasrand erscheinst und einen solchen gestelzten Schwachsinn erzählst, aber da ich vollkommen nüchtern bin, bist du nur ein kleines, grünes Ärgernis.»

Und ich schüttelte das Glas...
Als hätte er das überhört, säuselte er: «Dir zu lauschen ist für die Jugendlichen das grösste Erlebnis. Lass dir von niemandem einreden, man müsse sie zum Mitdenken anregen, zum aktiven Konstruieren von Zusammenhängen, zum kritischen Hinterfragen und zum selbständigen Erklären von neuen Inhalten. Das werden sie nie können. Dein Wissen und die Brillanz deiner Erklärungen werden sie ohnehin nie erreichen. Also rede immer nur du! Lass deinen Born nie versiegen, lass deine Weisheit auf sie herunterregnen. Damit führst du sie am schnellsten zum Ideal der menschlichen Bildung.»
«Möchtest du auch vom Born meiner Weisheit schlürfen?», fragte ich den Kobold.
«Wie meinst du…» Er konnte nicht ausreden. Denn noch während er sprach, schüttelte ich das Glas. Sofort fiel der miese Zwerg in den Wein, strampelte und krächzte und japste nach Luft. Und dann löste er sich langsam und vollständig im Wein auf. Danach war das Schlürfen des Weines ein ganz besonderer Genuss.