Schwamm drüber
Februar 2012: Die Leiden des Ludwig XIV.

Gespräche mit Junglehrern verblüffen mich immer wieder. Gefragt nach ihrem didaktischen Konzept, höre ich in Variationen dies: Wenn ich es als Lehrperson gut erkläre und dann den Schülerinnen und Schülern genügend Übungsmaterial gebe, werden sie es schon können, und wenn nicht, fehlt es an ihrem Einsatz. Das ist darum so verblüffend, weil doch die Forschung schon sehr viel weiter ist, und ich frage mich dann jeweils, welcher von den Junglehrern selber errichtete oder von aussen anerzogene Filter bewirkt, dass diesbezügliche Forschungsergebnisse so gar nicht in ihre Köpfe dringen.

Diese Vorstellung von Lernen ist in etwa so grob wie die Vorstellung, man müsse gegen jegliche Art von dentalen Beschwerden mit dem Ausreissen aller Zähne reagieren. Das mag zur Zeit Ludwigs XIV. noch Gültigkeit gehabt haben: Dem Armen wurden – notabene ohne Narkose – sämtliche (gesunden!) Zähne gezogen, weil sein Leibarzt, Doktor Daquin, befand, die Zähne bildeten den gefährlichsten Nährboden für Infektionen im ganzen Körper und müssten darum den royalen Mund schleunigst verlassen. Aber seither ist die Dentalforschung und auch die Lehr- und Lernforschung sehr viel weitergekommen. Beispielsweise ist heute sehr gut belegt, dass der Mensch neue Dinge viel besser lernt, wenn er sie sich selber erklärt. In diversen Studien wurde gezeigt, dass «Erklärer » gegenüber blossen «Zuhörern» vor allem langfristig im Vorteil sind. Will ich also, dass meine Klasse den Kapillareffekt gut lernt, so sollte ich die Lernenden Fragen wie etwa diese schriftlich beantworten lassen: Wieso steigt Wasser in einem dünnen Glasröhrchen höher auf als in einem weiten? Was bedeutet es genau, dass eine Flüssigkeit die Oberfläche des Röhrchens benetzt? Und gibt es auch Flüssigkeiten, die nicht benetzen? Können Sie erklären, welche Kräfte auf ein Flüssigkeitsmolekül wirken, wenn es sich a) im Inneren der Flüssigkeit und b) an der Grenzfläche zum Röhrchen befindet? Inwiefern spielt dieser Effekt eine Rolle bei Füllfederhaltern, bei Pflanzen und in der Medizin beim Abzapfen kleiner Mengen Blut? (Der Kapillareffekt war wohl Ludwigs kleinste Sorge, als er ganz ohne vernünftigen Grund immer wieder zur Ader gelassen wurde. Hätte er aber damals gewusst, was man heute weiss, hätte er seine Ärzte sicher alle zum Teufel gejagt, wenn nicht gar um einen Kopf gekürzt.)

Konfrontation mit Fehlerhaftem
Heute ist überdies gut belegt, dass bei komplexeren Wissenseinheiten, die sich durch eine hohe Zahl von Relationen auszeichnen, eine Methode höchst lernwirksam ist, die holistische Konfrontation heisst. Will ich beispielsweise, dass meine Klasse die Funktionsweise des menschlichen Blutkreislaufs lernt, so sollte ich die Schülerinnen und Schüler nicht nur mit einer korrekten, ganzheitlichen Darstellung des Kreislaufs konfrontieren, sondern auch mit fehlerhaften Darstellungen – und sie dann auffordern zu erklären, was daran aus welchen Gründen falsch ist und wie es korrigiert werden kann. So, wie Ludwig XIV. deutlich weniger leiden müsste, wenn er heute leben würde (und dafür aber auch nicht König wäre), so müssen Lernende heute weniger leiden, wenn die Lehrpersonen didaktische Konzepte entwickeln, die all das aufgreifen, was man über das menschliche Lernen weiss.