Schwamm drüber
Dezember 2011: Schöne neue Welt

Kürzlich wohnte ich einem Vortrag bei, in dem ein Projekt vorgestellt wurde, das irgendwo in der Schnittmenge zwischen Mathematik und Informatik angesiedelt ist. Der Vortrag war sensationell, das Thema bedeutend, ja, unter Umständen sogar von praktischer Relevanz für die ganze Menschheit. Aber die Ausführungen waren komplex, und es erschienen genau drei Zuhörer, mich mitgezählt. Die Verarbeitung dieses Erlebnisses hat wohl den verrückten Traum verursacht, den ich in der folgenden Nacht träumte. Es spielte sich zwar alles «hier und heute» ab, und doch war es eine ganz andere Zeit oder besser: eine ganz andere Welt. In dieser Traumwelt jedenfalls war Heldentum ganz neu definiert, waren Aufmerksamkeit und Wertschätzung ganz neu zugeteilt.

In dieser Welt gab es zwar auch Big-Brother- Reality-TV, aber hier brütete ein Forschungsteam von System-Designern öffentlich darüber, mit welchen Algorithmen die Verflechtungen der Weltwirtschaft am besten analysiert werden könnten, und Millionen von Zuschauern richteten ihren Tagesablauf danach aus, diesen Termin nicht zu verpassen. Zu einer Vorlesung von Wittgenstein (der im Traum noch lebte) erschienen nicht bloss zwei Studenten, vielmehr campierten schon am Vortag kreischende Teenager vor der Halle, um beim Einlass die besten Plätze zu erwischen. Im grössten Stadion des Landes begleiteten La Olas, Vuvuzelas und exaltierte Kommentatoren die Präsentation des neusten Operationsroboters, während ein Fussballmeisterschaftsspiel kaum beachtet auf einer Wiese im Aussenquartier ausgetragen wurde.

Prêt-à-fonctionner

In dieser Welt gab es zwar auch Modeschauen, aber hier präsentierten die Mannequins und Models neuste technische oder naturwissenschaftliche Errungenschaften, etwa verbesserte Motoren, effizientere Energiegewinnungsmethoden oder wirksamere Medikamente. Prêt-à-fonctionner statt Prêt-àporter. An einer Büchermesse fand ein neues Physikbuch, das alltägliche Phänomene erklärt, reissenden Absatz, während die Autobiographie von Daniela Katzenberger in einem Kleinstverlag für White Trash mit nur 750 Exemplaren gedruckt wurde. Jugendliche stritten sich um Tickets, um einer Chemiestunde beiwohnen zu dürfen, Schach- und Sprachkurse wurden hundertfach gegründet, und in Spielsalons gewann man dann am meisten, wenn man gut in logischem Denken war.

Es war eine verdrehte Welt, in der nicht irgendein Bubi, der es schafft, während zwei Minuten einigermassen richtige Töne zu einem Song zu trällern, stehende Ovationen und Bestnoten von einer Jury erntet, sondern in der das zum Beispiel einem exzellenten Wissenschaftler widerfährt. Es war eine Welt, in der Reporter und Journalistinnen aufhören, ihre eigene Grossartigkeit zu feiern und stattdessen Menschen ins Licht rücken, die in aller Bescheidenheit und Konstanz hervorragende Leistungen erbringen. Es war eine Welt, in der das Mass an Heldentum, das eine Person auf sich vereinigt, nicht proportional zu ihrer Nacktheit, Schrillheit oder Blödheit ist, sondern proportional zu dem Beitrag, den sie für das Fortkommen und das Wohl aller leistet. In dieser Welt wäre der eingangs erwähnte Vortragende überrannt worden und ein Held gewesen. Schöne neue Welt.