Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
Juni 2018: Moderne alte Geometrie
20180601

Ich habe kürzlich ein wirklich interessantes Buch über Geometrie gelesen. Im Vorwort schreibt der Verfasser, dass die Schwierigkeiten, die Anfänger mit Geometrie haben können, oftmals von der Art und Weise abhängen, in der das Thema gelehrt werde. Oftmals werde es zu abstrakt und trocken gelehrt, wodurch Anfänger den Mut und die Lust verlören, bevor sie auch nur eine klare Vorstellung von den neuen Gegenständen gewonnen hätten. Es müsse doch in erster Linie darum gehen, Interesse zu wecken, und dies könne am besten erreicht werden, wenn man zu den Anfängen der Disziplin gehe. Denn irgendwelche Menschen müssten ja aus irgendwelchen Gründen damit begonnen haben, und diese Anfänge müssten plausibel und leicht zu verstehen sein, weil diese Menschen ja selber Anfänger gewesen seien.

Im Weiteren plädiert der Verfasser dann dafür, die Anfänge einer Disziplin entdecken zu lassen, den Lernenden die Gelegenheit zu geben, den Weg der Erfinder selber zu gehen. Dadurch soll der Verstand zum eigenen Nachforschen und Entdecken gebracht werden.

Ist das nicht toll? In der Tat lässt sich Interesse für ein neues Thema viel eher wecken, wenn man erfährt, warum man damit überhaupt begonnen hat; die moderne Fachdidaktik würde das sofort unterschreiben. Interessant ist nur, dass dieses Buch alles andere als modern ist. Es stammt von einem gewissen Monsieur Clairant und wurde erstmals im Jahr 1741 veröffentlicht, also vor fast dreihundert Jahren. Das war die Zeit, als die Differentialrechnung – erst etwa fünfzig Jahre jung – stark weiterentwickelt wurde, die Zeit, in der der Schweizer Mathematik Leonhard Euler Grosses vollbrachte, die Zeit, in der die Anfänge der Topologie, der Graphentheorie und der Variationsrechnung stattfanden.

Clairant nähert sich der Geometrie dann, indem er das Problem aufwirft, wie eigentlich der Flächeninhalt eines Feldes oder eines Platzes bestimmt werden kann. Er zeigt, warum es dabei notwendig ist, senkrechte oder parallele Linien zu bestehenden Linien zu ziehen, und schon ist er mitten drin in der Geometrie. Er untersucht, wie man die Fläche einer Tapete berechnen kann, die nötig ist, um alle Wände eines Zimmers zu tapezieren, fragt, wie man die Fläche eines Ackers irgendeiner Form finden kann, um daraus den erwarteten Ertrag zu schätzen, er zeigt, wie man aus der Form eines Wasserbehälters oder Brunnens auf das Volumen schliessen kann und vieles mehr. All das ist noch heute lesenswert, fast möchte ich sagen, lesenswerter als so manche abstrakte und trockene Abhandlung über Geometrie, die mir schon begegnet ist. Zu allen Zeiten gab es tolle Ideen; warum sollen nur die modernsten die besten sein?

Eine der Aufgaben, die Clairant stellt, ist folgende: Ein Rechteck mit Länge AB und Höhe BC (siehe Abbildung) sei gegeben. Jemand möchte es in ein anderes Rechteck mit gleichem Flächeninhalt verwandeln, dessen Höhe BE aber gegeben ist. Welche Länge wird dieses neue Rechteck haben? Wie kann man sie geometrisch finden?

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor. Die Lösung erscheint am nächsten Dienstag auf der Seite Leben&Wissen.