Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
Mai 2018: Wer hat’s erfunden?
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Die Differentialrechnung ist eine überaus wertvolle mathematische Disziplin, die seit ihrer Erfindung spektakuläre Ergebnisse geliefert hat. Allerdings war schon ihr Anfang spektakulär, weil zwei Menschen sie fast gleichzeitig und unabhängig voneinander an verschiedenen Orten dieser Welt erfunden haben: Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz.

In den Pestjahren 1665 und 1666 soll Newton die Grundzüge der Differentialrechnung erarbeitet haben, ohne sie jedoch gleich zu veröffentlichen. Tatsächlich erfolgte die Publikation erst 1687. In den Folgejahren gab es einen Briefwechsel zwischen Newton und Leibniz, aber man weiss heute, dass Leibniz daraus nicht diese neuen Ideen schöpfen konnte; die Andeutungen waren zu vage, oder die Briefe hatten andere Inhalte. Dennoch vermuteten Anhänger von Newton später, dass Leibniz von ihrem Meister abgeschrieben hatte. Ab 1699 kam es zu ersten wüsten Streitschriften, in denen Leibniz beziehungsweise Newton beschuldigt wurde, vom jeweils anderen abgeschrieben zu haben. Da beide weltberühmt waren, der eine aber die englische und der andere die kontinentale Mathematik anführte, resultierte der Streit in einem lange Zeit vergifteten Klima zwischen der englischen und der kontinentalen Wissenschaft.

In einer Streitschrift von Nicolaus Fatio de Duillier aus dem Jahr 1699 heisst es etwa:

„Das freilich erkenne ich an, dass Newton der erste und mehrere Jahre älteste Erfinder dieses Calcüls war, denn dazu nöthigt mich die Augenscheinlichkeit der Dinge. Ob Leibniz, der zweite Erfinder, etwas von jenem entlehnt hat, darüber sollen lieber andere als ich ihr Urtheil abgeben, denen Einsicht in die Briefe oder sonstige Handschriften Newtons gestattet wird. Niemanden, der durchstudirt, was ich selbst an Dokumenten aufgerollt habe, wird das Schweigen des allzubescheidenen Newton oder Leibnizens vordringliche Geschäftigkeit täuschen.“

Das war wirklich deutlich, und natürlich konnten das Leibniz und seine Anhänger nicht auf sich sitzen lassen. Die Royal Society setzte eine Untersuchungskommission ein, die aber alles andere als neutral agierte, war Newton selbst damals doch Vorsteher dieser Gemeinschaft. Doch auch auf der kontinentalen Seite tat man alles, um den Streit am Kochen zu halten. Beispielsweise hatte Jakob Herrmann, ein Schüler des 1705 verstorbenen Mathematikers Jakob Bernoulli, den Auftrag, dessen Nekrolog zu verfassen. Leibniz selbst nahm darin einige nicht unwesentliche Veränderungen vor. So fügte er etwa ein, dass die „Leibnizsche Differentialrechnung“ als „die grosse Erfindung unseres Jahrhunderts“ zu gelten haben. Newton wurde mit keiner Silbe erwähnt. So zog sich der Streit über Jahre hin und wurde sogar über Leibniz Tod hinaus fortgeführt.

Heute ist sich die Forschung darüber einig, dass die beiden genialen Gelehrten die wesentlichen Ideen unabhängig voneinander entwickelt hatten, dass ein Plagiatsvorwurf als nicht haltbar ist.

Ein Problem, das man der Differentialrechnung zurechnen, aber auch ohne diese lösen kann, findet man bei Pierre de Fermat (siehe Abbildung). Können Sie es lösen?

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor. Die Lösung erscheint am nächsten Dienstag auf der Seite Leben&Wissen.