Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
Januar 2018: Dieser Titel lügt!
20180101

Paradoxa sind Phänomene, die in der Mathematik, aber auch in anderen Disziplinen, überaus reizvoll und lehrreich sein können. Zusammengesetzt aus den beiden griechischen Wörtern para (wider, neben) und doxos (Glaube, Meinung) bezeichnet ein Paradoxon etwas, das «wider die Meinung», also unerwartet, kontraintuitiv ist, etwas, das widersprüchlich erscheint. Der schwedische Künstler Oscar Reutersvärd hat wohl als einer der Ersten paradoxe Figuren entworfen, etwa den abgebildeten «Tribar». Trotz seines realistischen Aussehens ist er unvereinbar mit der Raumgeometrie und somit eben nicht realisierbar.

Der griechische Philosoph Zenon hat im fünften vorchristlichen Jahrhundert über Raum und Bewegung nachgedacht und zur Widerlegung von gewissen Annahmen über den Aufbau der Welt Paradoxien erdacht, die die Unmöglichkeit von Vorgängen «beweisen», welche im Alltag als möglich und normal erlebt werden. Beispielsweise argumentierte er, dass ein fliegender Pfeil sich in jedem einzelnen Augenblick an einem einzigen, klar definierten Ort befinde, und da sich an einem einzigen Ort nichts bewegen könne, müsse er in jedem Augenblick und somit jederzeit in Ruhe sein. Trotzdem glauben wir, dass der Pfeil sich bewegt, und dies eben sei paradox. Viel später haben solche Paradoxien die Mathematik befruchtet, indem sie etwa geholfen haben, die Grenzwerttheorie zu erschaffen. Paulus spricht im Titusbrief davon, dass «alle Kreter Lügner sind, wie einer ihrer eigenen Dichter gesagt hat.» Wenn das wahr ist, dann muss diese Aussage, da sie ja von einem Kreter stammt, selber eine Lüge sein, also ist es nicht wahr, dass alle Kreter Lügner sind, also ist die Aussage doch nicht wahr – eine verzwickte Situation.

Man könnte solche Paradoxien als irrelevante Spielereien abtun, allerding haben Bertrand Russell und andere zu Beginn des letzten Jahrhunderts ähnliche Widersprüche in den Fundamenten der Mathematik gefunden, was dann zu einer befruchtenden Aufarbeitung der mathematischen Grundlagen geführt hat. Überhaupt haben Paradoxien nicht selten revolutionäre Entwicklungen eingeläutet, weil der Schock ihres Auftretens die Menschen gezwungen haben, die bisherigen Denkmuster zu verlassen. So hat etwa die Paradoxie um den Welle-Teilchen-Dualismus bei Licht letztlich zu der Entwicklung der Quantenphysik geführt.

Betrachten wir nun eine Paradoxie von Russell etwas genauer: Jemand hat ganz viele Tüten und füllt diese mit den unterschiedlichsten Dingen. In Tüte 1 kommen die ersten fünfzig Primzahlen. In Tüte 2 kommen sämtliche roten Buntstifte dieser Welt. In Tüte 3 kommen ein Spielwürfel, eine Schildkröte und drei Bettrahmen. Und so weiter. Tüte 99 soll sämtliche Teelöffel dieser Welt enthalten. Und Tüte 100 enthält alles, was kein Teelöffel ist.

Tüte 100 ist sehr speziell, nicht wahr, denn da diese Tüte ja selber auch kein Teelöffel ist, muss Tüte 100 ebenfalls in Tüte 100 enthalten sein. Mit anderen Worten: Wenn wir Tüte 100 öffnen und hineinschauen, werden wir unter unglaublich vielen anderen Dingen auch Tüte 100 sehen. Aber nun spitzt sich alles zu: Tüte 101 soll nämlich genau sämtliche Tüten enthalten, welche sich nicht selber enthalten. Was denken Sie, ist Tüte 101 selber in sich enthalten oder nicht?

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor. Die Lösung erscheint am nächsten Dienstag auf der Seite Leben&Wissen.