Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
Mai 2017: Mathematisches Entdecken
20170501

Mathematische Sätze, Formeln und Aussagen wirken manchmal so, als wären sie von einem Deus ex machina in die Welt gebracht worden, fixfertig, elegant und stromlinienförmig. Sei es der Satz des Pythagoras, der Fundamentalsatz der Algebra oder der zentrale Grenzwertsatz – tausende von Schülerinnen und Studenten lernen diese Sätze, weil sie wichtig sind und weil sie da sind, und nicht selten haben sie das Gefühl, niemals selber zu solchen Entdeckungen fähig zu sein. Leider trifft das bei grösseren Sätzen sogar zu; ihre Entdeckung verdanken wir genialen Gehirnen. Dennoch sind auch weniger geniale Gehirne in der Lage, kleinere mathematische Entdeckungen zu machen. Wenn sie nur viele Fragen stellen. Versuchen wir das gleich einmal…

Jemand zeichnet mehrere Geraden auf einen (theoretisch unbegrenzten) Bogen Papier und fragt sich, in wie viele Teilgebiete das Papier durch die Geraden wohl unterteilt wird? Nun ja, wenn noch keine Gerade gezeichnet ist, gibt es ein einziges grosses Gebiet. Wir merken uns die Zahl 1. Zeichnet man die erste Geraden auf, so „zerschneidet“ diese das Papier in zwei Teilgebiete; wir merken uns die Zahl 2. Kommt eine weitere Gerade hinzu, entstehen vier Teilgebiete; wir merken uns die Zahl 4. Aber Achtung: Wäre die zweite Gerade parallel zur ersten, gäbe es nur drei Gebiete. Hmm…das könnte kompliziert werden. Vielleicht verlangen wir besser, dass keine solchen Spezialfälle eintreten, dass keine Gerade parallel zu einer anderen ist oder durch einen schon bestehenden Schnittpunkt führt. Mathematiker sagen: Die Geraden sind in „allgemeiner Lage“.

Nun gut, wir haben die Zahlen 1, 2 und 4. Verführerisch, nicht wahr!? Man könnte denken, es geht mit 8 und 16 weiter. Aber wenn wir die dritte Gerade (in allgemeiner Lage) hinzuzeichnen, so finden wir insgesamt 7 Gebiete. Nach der vierten Geraden finden wir mit sorgfältigem Zählen 11 Gebiete. Können wir das erklären?

Die Skizze macht deutlich: Wenn wir die vierte Gerade (gestrichelt) aufzeichnen, so schneidet diese jede der drei anderen Geraden genau einmal. Durch diese drei Schnittpunkte wird unsere neue Gerade in vier Abschnitte unterteilt, zwei endlich lange und zwei unendlich lange. Jeder dieser Abschnitte zerteilt ein „altes“ Gebiet in zwei „neue“. Insgesamt kommen also zu den schon existierenden sieben Gebieten genau vier neue Gebiete dazu. Darum haben wir nachher deren elf. Toll, das ist eine schöne kleine Entdeckung, nicht wahr!? Wenn wir die fünfte Gerade hinzuzeichnen, entstehen fünf neue Gebiete, nachher sechs, nachher sieben, und so weiter. Mit jeder neuen Geraden entspricht die Anzahl neu entstehender Gebiete gerade der Nummer der neuen Geraden. Anders gesagt: Wenn wir n Geraden hinzeichnen, so gib es insgesamt 1+(1+2+3+…+n) Teilgebiete.

Möchten Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, selber versuchen, eine kleine mathematische Entdeckung zu machen? Hier ist eine interessante Frage: In wie viele Teilgebiete unterteilen vier Ebenen in allgemeiner Lage den Raum? Stellen Sie sich ein riesiges Stück Käse vor. Nun schneiden Sie viermal in verschiedenen Richtungen durch diesen Käse hindurch. In wie viele Teile zerfällt er am Ende?

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor. Die Lösung erscheint am nächsten Dienstag auf der Seite Leben&Wissen.