Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
07.11.2015: Die Vogelscheuche hat Mühe mit Pythagoras

Pythagoras war nicht der Entdecker des Satzes von Pythagoras. Obwohl jedes Schulkind den nach ihm benannten Lehrsatz kennt, war Pythagoras von Samos (ca. 570 – 510 v. Chr.) nicht der erste, der diesen berühmten Satz formulierte. Die hier abgebildete Keilschrifttafel „Plimpton 322“ zeigt deutlich, dass der Lehrsatz weit vor Pythagoras bekannt gewesen sein muss. Die Tafel ist benannt nach George Plimpton, der sie im Jahr 1922 für $10 einem Händler abkaufte und dann der Columbia University schenkte. Sie ist eine von etwa einer halben Million Tafeln, die Anfang des 19. Jahrhunderts im Gebiet des heutigen Irak ausgegraben wurden – und eine von etwa vierhundert, die sich mit Mathematik beschäftigen. Und sie ist mindestens tausend Jahre älter als Pythagoras.

Wofür die Tafel damals benutzt wurde, ist noch immer Anlass für Spekulationen. Aber seit 1945 weiss man, dass sie fünfzehn sogenannte Pythagoreische Tripel enthält. Ein Pythagoreisches Tripel besteht aus drei ganzen Zahlen a, b, c, die die Eigenschaft a2 + b2 = c2 haben. Beispielweise bilden 3, 4 und 5 ein solches Tripel. Jede Zeile der Tafel liefert also die ganzzahligen Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks, was zeigt, dass Pythagoras nicht der Entdecker dieser Beziehung gewesen sein kann. Allerdings ist anzunehmen, dass er der erste war, dem ein allgemeiner Beweis für die Tatsache gelang, dass im ebenen, rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der beiden Katheten ist.

Der Lehrsatz von Pythagoras erfuhr eine beispiellose Verbreitung. Es ist nicht nur der Lehrsatz mit den allermeisten publizierten Beweisen aller je bewiesenen mathematischen Sätze. Er wird auch an praktisch jeder Schule gelehrt, und oft ist er der einzige Satz, an den sich Menschen, die nicht auf diesem Gebiet arbeiten, erinnern können. Seit 1999 haben Forscher im Auftrag der Firma Celestis Inc., die sich unter anderem mit Weltraumbestattungen beschäftigt, eine Serie von „Cosmic Calls“ abgesetzt, in der Hoffnung, dereinst Antwort von ausserirdischen Lebensformen zu erhalten. Unter anderem sandten sie den Satz von Pythagoras ins All und zwar als Folge von Nullen, Einsen und Pausen im 5 GHz-Radiowellenbereich, in der Annahme, dass dieser Satz universelle Gültigkeit hat und von anderen intelligenten Spezies ebenfalls entdeckt wurde. Leider wird der Lehrsatz oft falsch zitiert. Den gröbsten Fehler begingen wohl die Macher des Spielfilms „The Wizard of Oz“ (1939), in dem die Vogelscheuche, nachdem der Zauberer ihre Bitte um ein Gehirn erfüllt hat, zum Beweis der neu erhaltenen Intelligenz den Satz von Pythagoras zitiert: „The sum of the square root of any two sides of an isosceles triangle is equal to the square root of the remaining side.“ Das könnte falscher nicht sein.

Wenn wir schon über Pythagoras reden: Wie viele Dreiecke ABC mit ganzzahligen Seitenlängen gibt es eigentlich, die bei B einen rechten Winkel haben und deren Seite AB die Länge 20 hat?

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor. Die Lösung erscheint am nächsten Dienstag auf der Seite Leben&Wissen.