Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
03.05.2014: Die göttliche Proportion
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VIELLEICHT EMPFINDEN SIE, geschätzte Leserinnen und Leser, das abgebildete Rechteck als besonders schön!? Falls ja, wären Sie mit dieser Empfindung bei weitem nicht allein. Man nennt es das goldene Rechteck, weil seine Abmessungen eine ganz besondere Eigenschaft erfüllen: Wenn wir nämlich ein Quadrat wegschneiden, so ist das übrig bleibende Rechteck (schraffiert) zum ursprünglichen Rechteck ähnlich, das heisst, dass das Verhältnis von Länge zu Breite im schraffierten Rechteck gleich dem Verhältnis von Länge zu Breite im ursprünglichen Rechteck ist. Es ist also 1 : (p – 1) = p : 1 beziehungsweise, wenn wir etwas umformen, p2 – p – 1 = 0. Diese Gleichung hat als einzige positive Lösung die Zahl p = 1.618, und diese Zahl wird goldene oder manchmal sogar göttliche Proportion genannt. Was ist an dieser Zahl so Besonderes?

In der Tat empfinden viele Menschen goldene Rechtecke als besonders schön, als besonders wohl proportioniert. Seit die Mathematik der Antike diese Zahl im regelmässigen Fünfeck entdeckt hatte, hat sie nie aufgehört, Mathematiker, aber auch Künstler und Architekten zu faszinieren. Die Vorderfront des Parthenon-Tempels in Athen ist ein goldenes Rechteck, allerdings ist nicht bekannt, ob diese Proportion bewusst oder nur intuitiv gewählt worden ist. Mit Sicherheit hat der Architekt und Maler Le Corbusier den Goldenen Schnitt verwendet und dafür sogar den Ehrendoktor der Universität Zürich erhalten. Fachleute haben den Goldenen Schnitt in Gemälden von Leonardo da Vinci (zum Beispiel im «Abendmahl ») und Albrecht Dürer aufgespürt. In der zeitgenössischen Kunst hat etwa Jo Niemeyer das goldene Verhältnis verwendet. Und sogar im Instrumentenbau soll es für besonders klangschöne Instrumente sorgen.

Es besteht eine enge Verwandtschaft zwischen der goldenen Proportion und den sogenannten Fibonacci-Zahlen. Dies ist die Folge der Zahlen 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, und so weiter, bei der jede neue Zahl als Summe ihrer beiden Vorgängerzahlen gebildet wird. Zum Beispiel besagt eine herrliche Formel des französischen Mathematikers Jacques Binet, dass man für jede beliebige Stelle in der Abfolge der Fibonacci-Zahlen berechnen kann, welche Zahl dort steht, indem man mit der goldenen Zahl p eine spezielle Rechnung anstellt.

Haben Sie Lust, im Umfeld der goldenen Proportion selber eine kleine Entdeckung zu machen? Skizzieren Sie dazu ein Rechteck mit den Massen 2 x 1, zum Beispiel als zwei Häuschen auf einem Papierbogen. Konstruieren Sie dann immer neue Rechtecke, und zwar so, dass jedes neue Rechteck das kleinstmögliche Rechteck ist, welches zwei identische Kopien des Vorgängerrechtecks enthält, eines davon liegend (horizontal) und das andere stehend (vertikal). Wenn Sie immer weitere solche Rechtecke zeichnen, was können Sie dann über die Masszahlen von Länge und Breite sagen? Und was über das Verhältnis von Länge zu Breite?

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor.

Die Lösung erscheint am nächsten Dienstag, 6. Mai, auf der Seite «Leben & Wissen.»