Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
04.01.2014: Mit Broche, Charme und Schleifenkrawatte

WARUM KÖNNEN zahlreiche Prozesse und Zusammenhänge der Natur mithilfe von mathematischen Gleichungen beschrieben werden? Es ist unbestritten, dass die Mathematik ein unverzichtbares Werkzeug zur Erkenntnisgewinnung geworden ist. Ingenieure, Physikerinnen, Chemiker, Meteorologinnen, Ökonomen, Medizinerinnen, Statistiker und viele mehr ziehen sie täglich heran, um Weltausschnitte zu modellieren.

Andererseits wird die Mathematik aber von den Menschen erschaffen und ist somit geprägt durch die Art und Weise, wie diese die Natur wahrnehmen. Sehen wir etwa eine Strömung, so sehen wir ein «Wasserfeld », und an jedem Punkt gibt eine lokale Geschwindigkeit an, wie sich ein Molekül an dieser Stelle bewegt. Folglich «erfinden» Mathematiker sogenannte Vektorfelder, die gerade so gemacht sind, dass sie sich an den natürlichen Vorbildern orientieren. Darum ist es nicht so erstaunlich, dass die Mathematik so gut funktioniert. Der, der so argumentiert, heisst Cédric Villani. Es gibt wohl derzeit keinen anderen Mathematiker, der so sehr im Rampenlicht steht wie dieser 40-jährige Franzose. Und das hat mehrere Gründe: Zum einen hat Villani 2010 die Fields-Medaille gewonnen, die höchste Auszeichnung auf dem Gebiet der Mathematik. Andererseits pflegt Villani das Image eines Showman; er ist einer der wenigen Mathematiker, die Auftritte vor Menschen geniessen oder wenigstens interessant finden.

Er weiss sich in Szene zu setzen, und seine elegante und üppige Art der Kleidung mit Broschen und Schleifenkrawatten, die er bereits im Alter von 20 kultiviert hatte, um das weibliche Geschlecht anzuziehen, ist für Kameraobjektive ein wahrer Blickfang. Dann hat Villani ein Buch geschrieben («Das lebendige Theorem»), das nicht nur in Frankreich zum Bestseller geworden ist.

Und schliesslich hat er sich einen Namen gemacht im Zusammenhang mit der Erforschung der Boltzmann-Gleichung, einer der faszinierendsten Gleichungen der Welt. Sie beschreibt das Verhalten von Strömungen in verdünnten Gasen und kann beispielsweise vorhersagen, was geschieht, wenn ein Space Shuttle in die Erdatmosphäre eintritt. Faszinierender noch, sie lässt Erkenntnisse darüber zu, ob die Zeit umkehrbar ist oder nicht. Wer Villani in Aktion sehen will, findet auf Youtube unter anderem einen Film, in dem er erklärt, wie viele Palindrome mit genau 351 Stellen es gibt. Ein Palindrom ist eine natürliche Zahl, die von vorne und hinten gelesen identisch ist, wie etwa 11, 272, 4 533 354, und so weiter. Natürlich wäre es interessanter, wenn Sie, geneigte Leserinnen und Leser, diese Frage selber beantworten könnten, bevor Sie allenfalls Villani konsultieren: Wie viele Palindrome mit genau 351 Stellen gibt es denn?

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor.

Die Lösung erscheint am nächsten Montag, 6. Januar, auf der Leserbriefseite.