Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
05.10.2013: Mathematische Lügengeschichten haben lange Beine

IN DER MATHEMATIK ist es sehr schwierig, zu lügen, denn falsche Behauptungen können in der Regel durch Berechnung oder Argumentation widerlegt werden. Gleichwohl spielen Lügen auch in der Mathematik eine wichtige Rolle, in der Grundlagenforschung ebenso wie bei logischen Rätseln. Vor etwa 100 Jahren stürzte die Mathematik sogar in eine Krise, weil in ihren Grundlagen Widersprüche (Antinomien) auftauchten, die gut mit einer Lügengeschichte illustriert werden können.

Epimenides, ein Kreter, soll einmal gesagt haben: «Alle Kreter lügen.» Gemeint war sicher, dass sie immer lügen. Diese auf eine Bibelstelle (Brief des Paulus an Titus, 1:12) zurückgehende Aussage liefert zwar noch keinen Widerspruch, aber immerhin eine gute Gelegenheit zu einem ansprechenden logischen Argument. Falls die Aussage wahr wäre, müsste es zutreffen, dass alle Kreter immer lügen; folglich müsste auch Epimenides lügen, und daher könnte die Aussage doch nicht wahr sein. Wenn wir dagegen annehmen, der Satz wäre falsch, dann entsteht kein Problem: Wenn es falsch ist, dass alle Kreter immer lügen, dann gibt es eben mindestens einen Kreter, der nicht immer lügt, und darin steckt keinerlei Widerspruch. Es ist dann einzig klar, dass Epimenides kein Kreter ist, der stets die Wahrheit sagt.

Ein Widerspruch entsteht erst dann, wenn wir die Aussage in einem Sinne verschärfen, wie es Bertrand Russell vorgeschlagen hat: Epimenides sagt: «Das, was ich gerade jetzt sage, ist eine Lüge.» Das ist in der Tat eine Antinomie, denn wenn der Satz wahr wäre, müsste er eine Lüge sein, und wenn er eine Lüge wäre, so müsste er wahr sein. Tatsächlich tauchten in der mathematischen Grundlagenforschung vor etwa 100 Jahren Widersprüche genau dieser Art auf und verlangten Gegenmassnahmen. Russell etwa versuchte selbstreferenzielle Aussagen dadurch auszuschliessen, dass er sie hierarchisch anordnete und festlegte, dass man eine Aussage über die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes nur auf einer höheren Stufe machen darf als der Stufe, auf der der Satz selber ausgesagt wird.

Eine anregende Einkleidung solcher Antinomien ist die Geschichte vom Reisenden, der Kannibalen in die Hände fällt. Der Chefkannibale stellt ihn vor folgende unappetitliche Wahl: «Mach irgendeine Aussage. Wenn sie wahr ist, wirst Du gekocht, und wenn sie falsch ist, wirst Du geröstet.» Der Reisende ist ein gewiefter Logiker und antwortet: «Das, was ich jetzt sage, ist falsch.» Darauf durften die Kannibalen den Reisenden weder kochen noch rösten.

Hier ist eine weitere Lügengeschichte: In der Stadt Russelltown begegnen Sie Alice, Bob und Cedric. Alice lügt immer am Montag, Dienstag, Mittwoch und Samstag. Bob lügt immer am Donnerstag, Freitag und Samstag. Cedric lügt immer am Dienstag, Mittwoch und Freitag. An den nicht genannten Tagen sagt aber jeder stets die Wahrheit. Nun hören Sie zufällig das folgende Gespräch mit. Alice: «Gestern war einer meiner Lügentage.» Bob: «Witzig, bei mir auch.» Cedric: «So ein Zufall, auch bei mir.» An welchem Tag haben Sie dieses Gespräch gehört?

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor.

Die Lösung erscheint auf der Lesebriefseite am Montag, dem 7. Oktober 2013.