Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
02.04.2013: Ein mathematischer Wettkampf mit Folgen

20130402

VENEDIG, 17. JANUAR 1535. Nicolo Tartaglia wusste, was ihm blühte, als er überall an den Mauern die rötlichen Zettel aufgehängt sah. Ein gewisser Antonio Maria Fior forderte ihn zum Wettkampf heraus, und die Gepflogenheiten wollten es, dass der Verlierer beruflich erledigt sei und die Stadt verlassen müsse. Ausserdem würde die Kunde von dieser Schmach sich in wenigen Tagen bis nach Rom ausbreiten.

Mathematische Duelle waren damals üblich, ganz im Gegensatz zu heute. Tartaglia hatte sich selber schon in Verona solchen Wettkämpfen stellen müssen, war bisher aber immer als Sieger daraus hervorgegangen. Jetzt war er ein bekannter venezianischer Rechenmeister und Privatlehrer und hatte einiges zu verlieren: seinen Ruf, seine Rechenaufträge, seinen ganzen Lebensunterhalt. Im Februar 1512 hatten die Franzosen seine Geburtsstadt Brescia geplündert und den Knaben mit mehreren Schwerthieben ins Gesicht so stark verunstaltetet, dass er eine Zeit lang kaum mehr sprechen und später nur noch stottern konnte. Das hatte ihm den Übernamen «Tartaglia», der Stotterer, eingetragen. Fior dagegen war völlig unbekannt. Er war ein Schüler von Scipione del Ferro, einem Professor für Mathematik in Bologna, der das Glück hatte, dass der Professor ihm auf dem Sterbebett die Lösung einer Aufgabe anvertraute, die bis dahin noch kein Mensch lösen konnte.

Mit diesem Geheimwissen im Gepäck konnte Fior den Rechenmeister Tartaglia leicht herausfordern; Fior konnte praktisch sicher sein, dass er den Wettkampf gewinnen und damit den Konkurrenten aus Venedig vertreiben würde, um dann an seiner Stelle lukrative Rechenaufträge zu erhalten. Jeder stellte dem anderen dreissig Aufgaben. Doch während Tartaglias Aufgaben nicht besonders anspruchsvoll waren, stellte Fior dreissig Aufgaben vom selben Typ: Ein Kubus und einige seiner Seiten sind gleich einer Zahl. x3 + p✕x = q. Immer wieder. Und das war genau die Art von Aufgabe, die bis dahin noch kein Mensch lösen konnte.

Tartaglia schäumte vor Wut, als er die Aufgaben las, denn er wusste genau, dass solche Aufgaben damals als unlösbar galten. Er schaffte es aber, in den dreissig Tagen, die den beiden zur Verfügung standen, die Lösungsformel selbstständig zu entdecken und alle Aufgaben zu lösen, während Fior keine einzige der ihm gestellten Aufgaben lösen konnte. Seit 1535 und dank einem verrückten Duell können wir nun also kubische Gleichungen lösen, was in den Jahrtausenden vorher niemand geschafft hatte.

Möchten Sie einmal versuchen, die quadratische Gleichung x2 + 6✕x = 11.25 mithilfe der Abbildung zu lösen? Sie müssten dazu nur herausfinden, welche Fläche in der rechten oberen Ecke fehlt, diese Zahl auf beiden Seiten der Gleichung ergänzen und dann auflösen. Und wenn Sie das können, gibt Ihnen das einen klaren Hinweis, wie Tartaglia die kubische Gleichung löste. Man muss dazu «nur» statt eines Quadrates einen Würfel nehmen …

Armin P. Barth ist Gymnasiallehrer an der Kantonsschule Baden und Autor. Die Lösung erscheint mit seiner nächsten Kolumne am 7. Mai 2013.

Lösung vom 5. März 2013: Knapp 30%