Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
04.09.2012: Kann man Wahrheiten berechnen?

Ramon Llull, ein mallorquinischer Philosoph, hatte sich eine Aufgabe gestellt, die selbst Helden überfordert. Als er 1232 zur Welt kam, standen grosse Teile Spaniens seit 500 Jahren unter muslimischer Herrschaft. Die Rückeroberung durch die Christen war zwar in vollem Gange, aber noch immer lebten Anhänger aller drei monotheistischen Religionen im gleichen Land und begegneten einander oft verständnislos. Llull fasste den Plan, Antworten zu finden auf die Frage, wie die Verständigung zwischen Vertretern verschiedener Religionen verbessert werden konnte, ein Anliegen, das heute nicht weniger aktuell ist. Dazu erfand er eigens die „Ars magna“ (grosse Kunst, vgl. Abb.) Es handelte sich dabei um eine formale Sprache, in der die Grundbegriffe und –werte, die alle drei Religionen teilten, formalisiert werden und in der durch mechanisches Manipulieren dieser Terme neue, gemeinsam anerkannte Erkenntnisse und Antworten auf Streitfragen gewissermassen „berechnet“ werden sollten.

Die Idee war bestechend: Wenn man Wahrheit oder Falschheit von Aussagen rechnerisch entscheiden kann, dann kann es keinen Streit mehr geben. Im 17. Jahrhundert sollte Gottfried Wilhelm Leibniz ein noch gewagteres Unternehmen starten: Er wollte eine formale Sprache (characteristica universalis) schaffen, in der sich gedankliche Prozesse einer metaphysischen Disziplin ebenso ausdrücken lassen wie diejenigen der Logik und Mathematik, so dass dann Rechenschritte, oder besser: formale Manipulationen von Zeichen und Zeichenketten, ein für allemal über Wahrheit oder Falschheit von Aussagen entscheiden konnten. Es ist nicht verwunderlich, dass ein so kühnes Unterfangen ebenso wenig erfolgreich sein konnte wie der Plan von Ramon Llull.

Zu Beginn der 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach der formalen Berechenbarkeit von Wahrheiten eingeschränkt auf die Mathematik. David Hilbert hatte es 1900 angeregt, und Heinrich Behmann bezeichnete es als „Hauptproblem der modernen Logik“: Kann man allein durch formales Manipulieren mit Zeichen nach gewissen Regeln all das herleiten, was gilt? Sind Berechenbarkeit und Wahrheit dasselbe? Mathematikern wie Kurt Gödel und Alan Turing (der dieses Jahr seinen 100. Geburtstag hätte feiern können), ist es zu verdanken, dass man dazu bahnbrechende Antworten fand: Formale Kalküle haben immer einen blinden Fleck; sie können niemals all das erzeugen, was gilt.

Hier ist ein einfaches Beispiel einer formalen Sprache: Wir erlauben nur die Buchstaben X und Y. Damit lassen sich „Wörter“ bilden wie XXY, XYXY, YYY, usw. Und wir müssen uns an drei Regeln halten: 1.) Wenn ein Wort mit X beginnt, darf man den Rest des Wortes verdoppeln, also z.B. XYX à XYXYX. 2.) Wenn ein Wort 3 Buchstaben Y hintereinander enthält, darf man diese 3 Buchstaben löschen, also z.B. XYYYXY à XXY. 3.) Und wenn ein Wort auf Y endet, darf man hinten ein X anfügen, also z.B. XXY à XXYX. Wenn Sie nun mit der „Wahrheit“ XY starten, können Sie dann allein mit den 3 Regeln auf XX schliessen?

Die Lösung erscheint mit der nächsten Kolumne am 02. Oktober 2012.

Lösung vom 07. August 2012: (N+1)(N+2)/2 Steine. Augensumme = N(N+1)(N+2)/2