Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
05.06.2012: Reine Erkenntnis versus Nützlichkeit

IN DER MEHRERE TAUSEND Jahre andauernden Geschichte der Mathematik waren sich Menschen immer wieder uneins darüber, ob diese Wissenschaft vor allem Nützliches für den Alltag produziere oder eine rein geistige Tätigkeit der Erkenntnisvermehrung sei. Dabei ist nicht einmal klar, was «nützlich› überhaupt bedeutet. Der eine nennt die Mathematik nützlich, weil er Ingenieur ist und ihre Formeln braucht, um Maschinen zu bauen. Der andere nennt sie nützlich, weil er damit sein Geld verdient. Ein Dritter nennt die Mathematik nützlich, weil er glaubt, mit mathematischem Tun seine logische Denkfähigkeit zu steigern (was übrigens nicht stimmt).

Ob ein mathematischer Satz nützlich ist oder nicht, hängt auch von der Zeit ab, in der er betrachtet wird. Der grosse englische Mathematiker G. H. Hardy (1877–1947) sagte zum Beispiel: «Ich habe nie etwas gemacht, das nützlich gewesen wäre.» Der Zahlentheoretiker Hardy konnte nicht ahnen, dass schon wenige Jahre später eine Erfindung der Zahlentheorie wegen ihrer enormen Nützlichkeit so brisant wurde, dass die Publikation die Munitions Control Act der USA verletzte: Die Mathematik hatte das Feld der Verschlüsselung und Entschlüsselung von Daten erobert. In der griechischen Antike dagegen war der schnöde Nützlichkeitsgedanke meist verpönt. Die Mathematik galt als edelste und reinste Form des Denkens, geboren allein aus der menschlichen Ratio und unabhängig von der Aussenwelt; in der Mathematik feierte sich das menschliche Denken. Der grosse Thales (ca. 624–546) liess sich dennoch einmal dazu herab, die Mathematik in den Dienst der Nützlichkeit zu stellen – so berichtet es jedenfalls Aristoteles in seiner Staatstheorie. Den Vorwurf, seine Wissenschaft sei zu nichts nutze, konterte er damit, dass er dank astronomischen Berechnungen eine reiche Olivenernte vorhersah, noch zur Winterzeit zahlreiche Olivenhaine billig aufkaufte und dann vor der Ernte so teuer verpachtete, dass er zu grossem Reichtum gelangte.

Im China des 9. Jahrhunderts wurde Mathematik als so nützlich angesehen, dass jemand, der sich um eine Stelle als Staatsdiener bewarb, eine Prüfung in Mathematik ablegen musste. Da wurde zum Beispiel folgende Aufgabe gestellt: Als ein Holzfäller durch den Wald ging, hörte er, wie sich Diebe über die Aufteilung von Stoffballen unterhielten, die sie bei einem kürzlich verübten Überfall auf eine Handelskarawane erbeutet hatten. Einer sagte: «Wenn jeder von uns sechs Ballen erhält, bleiben fünf Ballen übrig. Aber sieben Ballen kann nicht jeder bekommen, denn dazu fehlen uns acht Ballen.» Können Sie diese Aufgabe lösen?

Die Lösung erscheint mit der nächsten Kolumne am 3. Juli 2012.

Lösung vom 1. Mai 2012: Ein einziges weiteres Rennen genügt. Dabei müssen Acey, Agon, Banjo, Bea und Cat gegeneinander antreten.