Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
07.02.2012: Eine unglaublich gute Idee

EIN GEFÄSS SEI ANFANGS randvoll mit Wasser gefüllt. Nun, zum Zeitpunkt t = 0, bohrt jemand ein Loch in den Boden, so dass das Wasser ausfliesst mit der Ausflussgeschwindigkeit vA in Litern pro Sekunde. Sicherlich ist vA anfangs gross, weil der Druck hoch ist, wird aber immer kleiner, wenn der Druck abnimmt. Die Ausflussgeschwindigkeit ist also keine konstante Grösse; deshalb schreibt man vA(t) (lies: «v von t»), um anzudeuten, dass die Geschwindigkeit zeitabhängig ist. Können wir vorhersagen, wie sich die Wasserstandhöhe h(t) im Gefäss zeitlich verändern wird?

Das ist ein typisches Beispiel eines so genannt dynamischen Prozesses. Unzählige Fragestellungen in Naturwissenschaft, Technik, Ökonomie und anderen Gebieten führen auf Prozesse, in denen man herausfinden möchte, wie sich eine bestimmte Grösse unter dem Einfluss anderer Grössen zeitlich (dynamisch) verändert. Und die Mathematik hat eine gute Idee entwickelt, um solcher Prozesse Herr zu werden.

Man zerstückelt den ganzen Prozess in kleine Zeitintervalle Δt (Delta t) und nimmt an, dass sich innerhalb eines solchen Zeitintervalls nichts ändert. Zum Beispiel könnten wir sagen, dass innerhalb der ersten Sekunde die Ausflussgeschwindigkeit konstant gleich 0,05 Liter pro Sekunde ist, obwohl – genau genommen – sich vA natürlich auch innerhalb dieser ersten Sekunde geringfügig verändert. Dann nimmt also innerhalb dieser ersten Sekunde das Wasservolumen um 0,05 Liter ab, und daraus können wir den Wasserstand am Ende der ersten Sekunde berechnen. Nun nehmen wir uns die nächste Sekunde vor und sagen zum Beispiel, dass vA innerhalb dieser zweiten Sekunde wiederum konstant ist, diesmal aber gleich 0,04 Liter pro Sekunde. Dann verringert sich das Volumen innerhalb der zweiten Sekunde also um 0,04 Liter, daraus berechnen wir den Wasserstand am Ende der zweiten Sekunde, und so weiter.

Für Formelliebhaber: V(t + Δt) = V(t) – vA × Δt. Um das Volumen am Ende eines Zeitintervalls zu finden, nimmt man das Volumen am Anfang und subtrahiert davon das während des Intervalls ausgeflossene Wasser, das aber aus der eigentlich falschen Annahme entstand, vA wäre während des Intervalls konstant geblieben.

Die kleinen Fehler, die wir uns bei jedem Zeitintervall einhandeln, werden ausgebügelt, wenn wir uns Δt sehr klein und immer kleiner denken. Man muss Δt also schrittweise verkleinern. Dieses Verkleinern des Zeitintervalls ist ein unendlicher Prozess. Und es ist eine Meisterleistung der Mathematik, vorhersagen zu können, wie es sein wird, wenn dieser Verkleinerungsprozess abgeschlossen ist. Darauf beruht das erfolgreiche Berechnen unzähliger dynamischer Prozesse in der Praxis.

Angenommen, das Gefäss hat eine Grundfläche von 1 dm² und eine Höhe von 5 dm. Zudem fliessen konstant 0,25 Liter Wasser pro Sekunde aus und gleichzeitig 0,1 Liter pro Sekunde zu. Wann wird das Gefäss leer sein?

Die Lösung erscheint mit der nächsten Kolumne am 6. März.

Lösung vom 3. Januar 2012: 10 Quader