Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
03.05.2011: Herr Warum und die Grenzen der Mathematik

«WENN WIR UNTER RELIGION jede Disziplin verstehen, deren Grundlagen wenigstens teilweise auf Glauben beruhen, so ist die Mathematik die einzige Religion, die über einen strengen Beweis der Tatsache verfügt, dass sie als Religion klassifiziert werden muss.» Dieses erstaunliche Zitat stammt von F. De Sua aus dem Jahre 1956. Wie kommt jemand dazu, die Mathematik in einem Atemzug mit Religion zu nennen?  

NUN, DER IM ZITAT erwähnte Beweis stammt vom grossen Mathematiker Kurt Gödel (1906 –1978; siehe Bild). Gödel erhielt schon als Kind den Übernamen «Herr Warum», weil er so versessen auf Details war, dass er mit unablässigem Fragen sein Umfeld herausforderte. Später wurde der Mann, der auch im Sommer den immer gleichen schwarzen Mantel trug, zum grössten Logiker aller Zeiten. Princeton, wo er neben Einstein lehrte, wurde durch ihn zum Mekka der Logik. Der Satz, den er 1931 bewies, schlug in der Welt der Mathematik wie eine Bombe ein, und er war und ist so tiefsinnig, dass einige Philosophen ihn als die grösste Leistung des abstrakten menschlichen Denkens unserer Zeit ansehen.  

SEHR GROB GESAGT beweist der Gödelsche Satz, dass, wenn das Fundament der Mathematik frei von inneren Widersprüchen ist, sich diese Widerspruchsfreiheit nicht mit den Methoden ebendieser Mathematik beweisen lässt und dass es zweitens mathematische Aussagen geben muss, über deren Richtigkeit oder Falschheit die mathematische Disziplin, zu der sie gehören, grundsätzlich nicht entscheiden kann, so clever man das auch anstellt. Da es also unmöglich ist, bezüglich der Sicherheit der Mathematik absolute Sicherheit zu erlangen, rückt De Sua sie in die Nähe einer Religion; aber sie ist die einzige, die das auch beweisen kann.  

WIR KÖNNEN DURCH ein Gedankenexperiment nachvollziehen, wie raffiniert Gödels Satz gestrickt ist und seine Grundidee einfangen: Angenommen, wir sammeln sämtliche sprachlichen Beschreibungen von Zahlen, etwa «ist die kleinste Primzahl» (also 2) oder «ist die vierte ungerade Zahl» (also 7) oder «ist die kleinste dreistellige Quadratzahl » (also 100) usw. Wir können dann all diese Eigenschaften in eine Reihenfolge bringen, indem wir mit der kürzesten anfangen und zu immer längeren übergehen und bei gleich langen alphabetisch ordnen. Haben wir erst eine Reihenfolge, so können wir alle Eigenschaften nummerieren. Dabei kann es passieren, dass eine Eigenschaft auf ihre eigene Nummer zutrifft, falls etwa «ist die kleinste Primzahl» die Nummer 2 bekommt, oder dass das nicht so ist, falls etwa «ist die vierte ungerade Zahl» die Nummer 19 erhält.  

ZWEIFELLOS IST NUN «ist eine Zahl, die die Eigenschaft, deren Nummer sie ist, nicht erfüllt» auch sprachliche Beschreibung einer Eigenschaft einer Zahl, und sie kommt somit in unserer Liste vor; sagen wir mit der Nummer 107.

Die Frage an Sie, geneigte Leserinnen und Leser, ist nun: Erfüllt die Zahl 107 die Eigenschaft mit der Nummer 107 oder nicht?  

Lösung vom 5. April 2011: 16