Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
08.03.2011: Lyrische Mathematik, mathematische Lyrik

GIBT ES MATHEMATISCHE Lyrik oder lyrische Mathematik? Mir sind nur wenige Mathematiker bekannt, die ihre Aufgaben oder Erkenntnisse in Reimen präsentiert haben. Eher zur Unterhaltung hat der Rechenmethodiker Christian Peschek (18. Jahrhundert) wohl seinen Schülern diese Aufgabe gestellt:

Unten an einer schönen Linden / war
gar ein kleiner Wurm zu finden. / Der
kroch hinauf mit aller Macht / acht Ellen
richtig bei der Nacht / und alle Tage
kroch er wieder / vier Ellen dran hernieder.
/ Zwölf Nächte trieb er dieses Spiel /
bis dass er von der Spitze fiel / am Morgen
in die Pfütze / und kühlt sich ab von
seiner Hitze. / Mein Schüler, sage ohne
Scheu / wie hoch dieselbe Linde sei?

UND DER HEUTE 83-jährige amerikanische Mathematiker und Songwriter Tom Lehrer verpackte in seinen Reimen Kritik an der in den USA als New Math bekannten Rechenmethode, die häufig die Eltern der Kinder, denen man Rechnen noch ganz anders beigebracht hatte, zur Verzweiflung trieb. 173 von 342 zu subtrahieren, wird so zu einem Höllentrip:

You can’t take 3 from 2 / 2 is less than
3 / so you look at the 4 in the tens
place. / Now that’s really 4 tens / so
you make it 3 tens / regroup, and you
change a 10 to 10 ones / and you add
them to the 2 and get 12 / and you take
away 3, that’s 9. / Is that clear? (…)

VIEL EHER SIND POETEN willens, sich mit Mathematik zu befassen. So hat die amerikanische Schriftstellerin Rita Dove einmal der Sensation Ausdruck verliehen, die sich im Inneren dessen abspielt, der gerade eine mathematische Entdeckung gemacht hat. Die ersten Zeilen ihres Gedichtes Geometry lauten:

I prove a theorem and the house expands
/ the windows jerk free to hover
near the ceiling / the ceiling floats
away with a sigh. (…)

Christian Morgenstern schickte zwei Parallelen auf eine frustrierende Reise:

Es gingen zwei Parallelen / ins Endlose
hinaus / zwei kerzengerade Seelen
/ und aus solidem Haus. / Sie wollten
sich nicht schneiden / bis an ihr selig
Grab / das war nun einmal der beiden
/ geheimer Stolz und Stab. (…)

Ehrenfried Winkler verwickelte die Zahl Null in ein Wechselbad der Gefühle:

Auf einer Bank im Sonnenschein / sass
– wertlos – eine Null allein / und niemand
nahm von ihr Notiz / nicht ein Passant,
nicht die Miliz. / Da kam die Eins
des Wegs daher / zur Bank, die sozusagen
leer / und setzt sich ohne weitern
Sinn / vor jene Null ganz einfach hin. (…)

Ich habe mich nun auch in lyrischer Mathematik versucht (siehe Kasten). Das Gedicht enthält selbstverständlich eine hübsche Aufgabe für Sie bereit.

Lösung vom 8. Februar: 0.999999999957 einer Stunde