Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
09.11.2010: Die Wirklichkeit steht Modell

EINER DER WICHTIGSTEN Aspekte der Mathematik besteht darin, dass sie die Wirklichkeit modelliert. Ihre Resultate besagen – genau genommen – nichts über die Wirklichkeit aus, sondern nur darüber, wie sich das Modell verhält. Wenn dieses aber gut auf die Wirklichkeit passt, dann ist das Resultat angemessen und wertvoll.

DAS KANN GUT mit dem Hinweis auf Architekturmodelle verdeutlicht werden: Das Modell eines zu bauenden Hauses ist nicht identisch mit dem (später realen) Haus, es hat aber alle im Hinblick auf die aktuell zu fällende Entscheidung – nämlich, ob es so gebaut werden soll oder nicht – nötigen Eigenschaften. Andere für diese Entscheidung unnötige Eigenschaften (wie etwa die richtige Grösse, voll eingebaute Küchen und angeschlossene Kanalisation) hat es nicht. Das Modell ist also immer eine starke Vereinfachung des Wirklichen und vereint in sich das Minimum an Eigenschaften, die gerade nötig sind, um eine Aussage machen zu können, die den Prozess voranbringt.

GENAUSO arbeitet die Mathematik. Der Mond ist keine Kugel, aber die astronomischen Rechnungen werden einfacher (oder erst möglich), wenn man den Mond durch eine Kugel modelliert. Wenn man einen Gegenstand fallen lässt, so kann man mit der Formel s = 5•t2 die Fallstrecke berechnen, die der Gegenstand nach t Sekunden zurückgelegt haben wird. Aber es stimmt eben nicht genau, denn die Formel geht zum Beispiel davon aus, dass es keinen Luftwiderstand gibt. Die Formel ist bloss ein Modell, das keineswegs alle realen Eigenschaften des Fallversuchs berücksichtigt, für viele Zwecke aber ausreicht.

ALS DER MATHEMATIKER Jim Miekka ein Modell für Börsencrashs (das so genannte Hindenburg Omen) aufstellte, war er sich sicher bewusst, damit ein Modell zu kreieren, das aus gewissen ausgewählten Eigenschaften des Börsenverhaltens (also keineswegs allen) Schlüsse zieht, die nicht zwingend mit der Realität übereinstimmen müssen. Das Modell ist gut, wenn es sich in der Praxis bewährt, das heisst, wenn es Vorhersagen erlaubt, die mit der Realität in einem gewissen Mass übereinstimmen. Der amerikanische Statistiker George Box formuliert es einmal so: «All models are wrong. But some are useful.»

ANGENOMMEN, wir möchten eine Aussage darüber machen, wie viele Tage es dauern wird, bis ein bestimmter Eisberg geschmolzen sein wird. In Vereinfachung der realen Situation sagen wir einmal, der Eisberg sei ein Quader mit Länge 800 m, Breite 400 m und Höhe 120 m. Das stimmt nicht genau, aber es ist gut möglich, dass wir trotzdem eine Vorhersage machen können, die einigermassen realistisch ist. Wir beobachten weiter, dass pro Tag sich die Länge um zirka 2 m, die Breite sich um zirka 1 m und die Höhe sich um zirka 0,4 m reduziert. Welches Volumen hat der Eisberg nach x Tagen? Und wann wird er weggeschmolzen sein, falls unser Modell «useful» ist?

Die Lösung erscheint gemeinsam mit seiner nächsten Kolumne am 7. Dezember.
Lösung der Kolumne vom 12. Oktober 2010: Die Prüfziffer muss 5 sein.