Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
06.01.2009: Warum selbst der schnellste Läufer die Schildkröte nie einholen kann

 

Es gibt wohl kaum ein unfaireres Rennen als das zwischen einem menschlichen Läufer und einer Schildkröte. Das Tier ist absolut chancenlos, und der menschliche Läufer dürfte schon ausser Sichtweite sein, bevor die Schildkröte sich merklich vom Startpunkt wegbewegt hat. Die Situation ändert sich aber dramatisch zugunsten der Kröte, wenn ihr ein Vorsprung gewährt wird. Dann ist sie sogar uneinholbar, und das ist wirklich eine erstaunliche Angelegenheit!

Glauben Sie mir nicht? Nun, hier ist der Beweis: Wir stellen uns vor, ein Läufer und eine Schildkröte seien zum Rennen verabredet. Die Rennbahn ist eine schnurgerade und beliebig lange Strecke, und aus Mitleid lässt der Läufer dem Tier einen Vorsprung von 100 Metern. Um präziser argumentieren zu können, führen wir noch zwei Bezeichnungen ein: Den Buchstaben S für den Startpunkt des Läufers und den Buchstaben A für den Startpunkt der Schildkröte (vgl. Abbildung). Auf Kommando starten beide gleichzeitig. Nun dauert es eine bestimmte Zeit, bis der Läufer die Stelle A erreicht, an der die Schildkröte gestartet ist. In dieser Zeit hat sich die Schildkröte natürlich bewegt. Sagen wir, sie erreicht die Position B exakt in dem Augenblick, in dem der Läufer die Stelle A erreicht. Nun muss der Läufer, will er das Tier einholen, die Stelle B erreichen, und dazu benötigt er eine gewisse Zeit. Wenn er in B ankommt, ist die Schildkröte nicht mehr dort, denn sie ist in dieser Zeit an eine Stelle C weiter«gerannt». Nun muss der Läufer, will er das Tier einholen, die Stelle C erreichen, und dazu benötigt er eine gewisse Zeit. Wenn er in C ankommt, ist die Schildkröte nicht mehr dort, denn sie ist in dieser Zeit an eine Stelle D weiter«gerannt ». Die Strecken, die der Läufer überwinden muss, um das Tier einzuholen, werden zwar immer kürzer, aber in jedem Augenblick ist die Schildkröte vor dem Läufer, denn man kann theoretisch unendlich viele Positionen A, B, C, D, E . . . nennen, die der Läufer erreichen muss, um das Tier einzuholen, und die das Tier aber immer schon verlassen hat in dem Augenblick, in dem der Läufer dort ankommt. Daher kann der Läufer die Schildkröte nie einholen, und in ungläubigem Entsetzen und völliger Erschöpfung wird er hinter ihr zusammenbrechen. Diese Argumentation stammt von Zenon, einem Schüler des griechischen Philosophen Parmenides, der um 500 v. Chr. im heutigen Unteritalien lebte. Es ist uns allen klar, dass der Läufer – bei Zenon handelte es sich um Achill – die Schildkröte einholen wird. Dennoch ist das Argument raffiniert und verlockend, und manch einer wird zugeben müssen, nicht genau zu verstehen, weshalb es falsch ist. Es stellt sich also die Frage, zu welchem Zweck Zenon sein Argument aufgestellt hatte. Sehr wahrscheinlich ist, dass Zenon die Lehre seines Meisters Parmenides stützen wollte, die sich ungefähr so umschreiben lässt: Gewöhnlich urteilen die Menschen aufgrund der Sinneserfahrungen; diese aber sind «ziellos» und «brausend» und bringen nichts als Wahnvorstellungen hervor. Allein die Vernunft urteilt logisch, und darum darf man nur auf sie allein vertrauen. Die Vernunft aber sagt: Aus Nichts kann nichts entstehen, also muss das Sein immer schon so gewesen sein, und es kann sich nichts verändern, denn sonst würde etwas vergehen oder zum Seienden aus dem Nichts etwas hinzukommen. Alles Sich-Verändernde ist also Trugbild, in Wirklichkeit ist immer alles eins und unverändert. Insbesondere gibt es auch keine Bewegung, denn sie wäre ja Veränderung von Seiendem. Zenon muss ein treuer Schüler gewesen sein, denn er tat alles, um die These seines Lehrers zu untermauern. Seine Geschichte vom Läufer und von der Schildkröte sollte wahrscheinlich die gegnerische Annahme, es gebe so etwas wie Veränderung und Bewegung, ad absurdum führen. Wenn es Bewegung gäbe, müsste das Rennen zwischen Achill und dem Tier möglich sein, aber dann wäre das Tier uneinholbar, was Unsinn ist. Also kann es keine Bewegung geben. Mit solchen spitzfindigen Argumenten liessen sich die Gegner von Parmenides vielleicht beeindrucken, falsch sind sie aber trotzdem.

Man kann zwar unendlich viele Vorsprünge der Schildkröte auflisten: AS, BA, CB, DC, ED und so fort, das heisst aber noch lange nicht, dass alle diese unendlich vielen kleiner werdenden Strecken zu einer unendlich langen Gesamtstrecke führen oder dass unendlich viel Zeit benötigt wird, um sie alle zurückzulegen. Sie können, geschätzte Leserinnen und Leser, sogar genau ausrechnen, wann und wo der Läufer das Tier ein- und überholen wird. Nehmen Sie nur mal an, der Läufer sei doppelt so schnell wie das Tier. Wie lang sind dann die Vorsprünge AS, BA, CB, DC . . .? Welche Gesamtsumme ergibt sich bei Addition aller Vorsprünge? Und in welcher Zeit wird der Läufer diese Gesamtdistanz zurücklegen?