Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
09.12.2008: Wie alt ist das Auto?

 

Man würde denken, dass Texte über Mathematik ein eher kleines Publikum finden, dass bereits das Thema zahlreiche Leserinnen und Leser abschreckt. Ich habe bisher in dieser Kolumne die gegenteilige und somit eine wirklich beglückende Erfahrung gemacht, und ich möchte an dieser Stelle einmal allen danken, die dieser Kolumne bis jetzt die Treue gehalten haben. Sie fragen sich, woher ich um die Lesegewohnheiten der Leserinnen und Leser weiss? Ganz einfach: Ich bekomme E-Mails. Nach jedem Text gehen einige E-Mails bei mir ein, die sich auf die eine oder andere Art – fast immer aber auf erfreuliche Art – mit meiner Kolumne auseinandersetzen. Nur bei meinem letzten Text war alles anders; diesmal ging eine wahre Flut von E-Mails ein, und daher möchte ich nun diesen Text einem Rückblick auf den letzten Text widmen. Ein einziges E-Mail hatte mit meiner einleitenden Bemerkung über Latein zu tun, alle anderen aber handelten von der Aufgabe über das Alter von Anna und Maria. Ich möchte darum hier wenig über Latein sagen und danach viel über Mathematik:

Zuerst: Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich Latein für wertlos halte; das wäre ganz falsch. Ich selber war im Laufe meines Lebens bei zahlreichen Gelegenheiten froh darum, einmal Latein gelernt zu haben. Im Hintergrund meiner Bemerkungen standen Studien der Lehrund Lernforschung, die zeigen, dass Latein, obwohl das früher oft behauptet wurde, es nicht schafft, eine Art unspezifische geistige Fitness zu erzeugen. Man kann von Latein keine «formale Bildung» erwarten, die dem Geist eine allgemeine Stärke und Geschmeidigkeit verleiht, so wie Turngeräte es mit dem Körper tun können. Aber ich wollte das gar nicht als Nachteil des Studiums der lateinischen Sprache verstanden wissen, obwohl man das vielleicht so hat verstehen können. Vielmehr ist es so, dass kein Fach das schafft, auch die Mathematik nicht. Es ist allgemein ein Irrtum anzunehmen, das Gehirn sei ein Organ, das sich durch gewisse geistige Betätigungen so trainieren lässt, dass es sich dann auch für ganz andere Aufgaben besser eignet. Lernen erfolgt immer nur im Zusammenhang mit konkreten Inhalten, und wenn man lernt, dann das, wovon diese Inhalte handeln. Daher: Man kann auf Latein zwar verzichten, so wie man auf viele andere kulturell wertvolle Dinge verzichten kann, aber ich wollte es nie als wertlos hinstellen.

Nun zu Anna und Maria: Es war herrlich zu lesen, wie viele Leserinnen und Leser sich mit dieser Aufgabe auseinandergesetzt haben, meistens auch mit Erfolg. (Zur Erinnerung: Maria ist heute 24 Jahre alt. Sie ist doppelt so als wie Anna war, als Maria so alt war, wie Anna heute ist. Wie alt ist Anna heute?) Ein Leser bat mich, ihm die Lösung doch bitte mitzuteilen, um weitere schlaflose Nächte zu verhindern, ein anderer hatte sich so sehr in die Aufgabe vertieft, dass er darüber die «Tagesschau » verpasste und folglich die Sendung «10 vor 10» abwarten musste, um sich up to date zu halten – ein Unglück von sehr begrenzter Tragweite. Ganze Bürogemeinschaften hatten über der Aufgabe gebrütet und mir die gemeinschaftlich erarbeitete Lösung zugeschickt, und ich kann nicht mehr als hoffen, dass nirgendwo wertvolle Arbeitszeit dafür missbraucht worden ist. Die Lösung lautet: Anna ist heute 18 Jahre alt. Um dieses Resultat zu erhalten, kann man etwa eine Tabelle wie die abgebildete aufstellen. Zuerst trägt man das Gegebene ein, nämlich dass Maria heute 24 Jahre alt ist und dass Anna irgendwann früher halb so alt, also 12 Jahre alt, war. Das heutige Alter von Anna ist gesucht, also x. Als Anna 12 war, war Maria so alt wie Anna heute, also ebenfalls x. Nun sollte man festhalten, dass zwischen dem früheren und dem heutigen Zeitpunkt bei beiden Frauen gleich viel Zeit vergangen ist, sodass also 24–x=x–12 ist. Aus dieser Gleichung findet man x=18, und damit ist die Aufgabe gelöst.

Ein Leser (H. Ott aus Zofingen) hat mir eine Variante geschickt, über die ich mich sehr gefreut habe, und auf die Gefahr hin, damit weitere schlaflose Nächte, verpasste Fernsehsendungen oder einen volkswirtschaftlichen Schaden durch vergeudete Arbeitszeit zu verursachen, notiere ich sie hier: Ein Auto ist heute doppelt so alt wie seine Reifen waren, als das Auto so alt war, wie die Reifen heute sind. Wenn die Reifen so alt sein werden, wie das Auto heute ist, werden Auto und Reifen zusammen 27 Jahre alt sein. Wie alt ist das Auto heute, und wie alt sind die Reifen heute?

Um allfälliger Kritik eines anderen E-Mail-Schreibers vorzubeugen, der meinen letzten Text aufs Schärfste verurteilt hat, möchte ich hier betonen, dass solche Aufgaben aus der Sicht der Praxis natürlich vollkommen irrelevant sind. Aber es ist wie mit Kreuzworträtseln, Silbenrätseln und Sudokus: Sie fordern viele Menschen heraus, und viele Menschen werden gerne herausgefordert und geniessen es, wenn sie der Herausforderung standhalten können. Das gibt ein gutes Gefühl. Und dabei ist ja eigentlich nichts Schlechtes zu finden. Also: Wie alt ist denn das Auto?