Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
25.11.2008: Von Kühen, Ziegen und mathematischen Blamagen

Als ich noch zur Schule ging, wurden wir sechs Jahre lang intensiv in Latein unterrichtet, und man wies uns darauf hin, dass wir der künftigen Elite des Landes angehören würden. Das Studium des Lateins würde unsere Gehirne in einen Zustand höchster Reife und Geschmeidigkeit versetzen, sodass wir praktisch jeder Aufgabe gewachsen sein würden. Heute ist belegt, dass diese Vorstellung ganz falsch ist, dass die Wirkung von Latein massiv überschätzt wurde, dass es eine Art allgemeines Fitnesstraining für das Gehirn nicht gibt. Auch die Mathematik schafft das nicht. Im Gegensatz zu Latein ist sie heute aber unverzichtbar. Wie ein unsichtbares Gewebe durchwirkt sie fast alle modernen Errungenschaften. Beim Bau von Brücken, Häusern und Türmen, bei pharmazeutischen Forschungen, medizinischen Diagnosesystemen, bei der Konstruktion von Maschinen, in der Telekommunikation, bei Computern, bei Verschlüsselungsverfahren, bei der Bestimmung von Renten und Renditen, bei der Verkehrsführung, in der Nahrungsmittelindustrie und bei vielen anderen Errungenschaften leistet die Mathematik entscheidende Beiträge, ohne die das Ganze nicht funktionstüchtig wäre. Umso bedauerlicher ist es, dass in vielen Leuten nicht das geringste Interesse an Mathematik aufkeimt, ja, dass sich einige mit ihrem vollständigen Fehlen von mathematischem Wissen sogar brüsten und doch jeden Tag Mathematik konsumieren. Mathematischer Unverstand treibt die lustigsten Blüten. Bei der folgenden einfachen Mathematikaufgabe habe ich schon die aberwitzigsten Antworten gelesen: Es sei Z die Anzahl Ziegen und K die Anzahl Kühe auf einer Weide. Es hat fünfmal so viele Ziegen wie Kühe auf der Weide. Können Sie das durch eine Gleichung ausdrücken? Ein Kinderspiel, denken Sie? Mitnichten! Diese Aufgabe wurde seit 1980 verschiedenen Personengruppen vorgelegt, und stets zeigte sich, dass eine Mehrheit der Befragten die falsche Gleichung 5 . Z = K notierte – und auch nach ausführlichen Hinweisen und Belehrungen daran festhielt. Offenbar wird der Ausdruck «5 . Z» von vielen als «fünfmal so viele Ziegen» verstanden, obwohl die Gleichung ja eigentlich bedeutet, dass wenn man die Anzahl Ziegen verfünffacht, man dann die Anzahl Kühe erhält. Demnach müsste es bedeutend mehr Kühe als Ziegen geben, obwohl es gerade umgekehrt ist. Die korrekte Gleichung muss also heissen: 5 ×K = Z. Wenn man die Anzahl Kühe verfünffacht, erhält man die (grössere) Anzahl der Ziegen.

Es kommt noch schlimmer! Die Zeitung «Manchester Evening News» berichtete, dass die staatliche Lottogesellschaft ein neu eingeführtes Rubbellos aus dem Verkehr ziehen musste, weil es zahlreiche Menschen mathematisch überforderte. Die Loskäufer mussten eine Temperatur freirubbeln und entscheiden, ob die freigerubbelte Temperatur niedriger war als eine aufgedruckte. Falls ja, winkte dem Losinhaber ein Gewinn. Nun wurde auf vielen Losen die winterliche Temperatur –7° freigerubbelt, während die aufgedruckte Temperatur –8° betrug. Zahlreiche Spieler hielten –7° für niedriger als –8° und bestürmten die Lottogesellschaft, ihnen den Gewinn auszuzahlen. So wenig Mathematikverständnis ist schockierend. Der Vorteil von ein wenig Mathematik im Alltag müsste doch jedermann einleuchten. Trotzdem trifft man immer wieder auf Menschen, die die Mathematik aus ihrem Leben auszuklammern versuchen. Goethe war ein prominenter Vertreter dieser Spezies. Er hielt die Mathematik für ein «Hexengewirre von Formeln ». Im Zusammenhang mit den Pisa-Untersuchungen wurden viele Klagen über mangelnde Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern laut, teilweise auch im Fach Mathematik. Dies hat Karikaturist Uli Stein in einem Buch wunderbar illustriert: Ein Pizzaverkäufer fragt einen kleinen Jungen: «Soll ich dir die Pizza in vier oder in acht Stücke schneiden?» Darauf der Junge: «Machen Sie vier, acht schaffe ich nie.»

Übrigens blamieren sich manchmal auch ausgebildete Mathematiker! Im Jahr 2003 entschuldigte sich die Texas Education Agency, die für die Durchführung von landesweiten Mathematiktests verantwortlich war, für eine der gestellten Aufgaben. Den Schülern wurde das hier abgebildete regelmässige Achteck mit den dort eingetragenen Streckenlängen gezeigt. (Der Punkt C ist das Zentrum des Umkreises, und die Strecke mit Länge 4 steht senkrecht auf der Achtecksseite.) Aufgabe war es, den Umfang des Achtecks zu berechnen. Wenn Sie die Aufgabe lösen wollen, seien Sie auf der Hut; sie ist nämlich falsch gestellt.

Eine beispiellose Blamage fügte die folgende Aufgabe vielen Lesern einer New Yorker Zeitung und selbst einigen Mathematikstudenten zu: Maria ist 24 Jahre alt. Sie ist jetzt doppelt so alt, wie Anna war, als Maria so alt war, wie Anna jetzt ist. Wie alt ist Anna? Falls das Problem Sie interessiert, möchte ich Ihnen diesen Rat geben: Lesen Sie die Aufgabe immer wieder, bis die Situation klarer wird. Zeichnen Sie alles auf. Lassen Sie nicht locker. Geben Sie nicht auf. Wir haben einen Ruf zu verlieren . . .