Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
23.09.2008: Besprechung eines 2300 Jahre alten Buches

Euklid

Sie hätten bestimmt nicht erwartet, dass hier jemand ein so altes Buch bespricht, nicht wahr!? Genau genommen ist es auch gar kein Buch, weil Johannes Gutenberg den Buchdruck erst 1445 erfand. Ursprünglich war es eine Papyrusrolle, also ein Holzstab, um den gepresste und beschriebene Streifen aus dem unteren Stammteil der Papyruspflanze gewickelt waren. Es wurde erst viel später zu einem Buch, nachdem es als Abschrift von Abschriften von Abschriften 1800 Jahre wechselvolle Geschichte überlebt hatte und durch die Vervielfältigungen in Gutenbergs Maschine endgültig der Gefahr entronnen war, im Dunkel der Geschichte für immer verloren zu gehen. Dann aber wurde es zu einem Knüller, zu dem neben der Bibel auflagenstärksten Buch der Menschheitsgeschichte.

Was für ein Buch kann so etwas schaffen? Viele würden ein literarisches Buch erwarten, vielleicht einen Bericht über bahnbrechende Entdeckungen, ein Werk über Politik oder über die Herstellung von Schiesspulver – oder über Erotik. Die wenigsten würden sofort an Mathematik denken. Aber genau das ist es: die «Elemente» des griechischen Mathematikers Euklid, der um 300 v. Chr. lebte und an der grossen Bibliothek von Alexandria arbeitete. Warum war gerade diesem Buch ein so überwältigender Erfolg beschieden, dass es auf der ganzen Welt gelesen wurde und wird und dass Abraham Lincoln, als er Kongressabgeordneter war, es jeden Abend mit ins Bett nahm in der Annahme, dass es seine Denkfähigkeit positiv beeinflusse? (Der Mann war als Republikaner ein Gegner der Sklaverei; zu vermuten, diese Haltung hätte etwas mit Euklid zu tun, wäre allerdings mehr als verwegen.)

Man weiss heute praktisch nichts über Euklid und die Umstände, die zu seinem Buch geführt haben. Aber es ist unbestritten, dass das Werk ein Geniestreich ist. Einer der Schätze in Euklids Buch ist ein Satz, der im Jahr 2000 anlässlich einer Umfrage unter den Leserinnen und Lesern der Zeitschrift «The Mathematical Intelligencer» zu einem der drei schönsten Sätze der Welt erkürt wurde: Der Satz, wonach es unendlich viele Primzahlen gibt. (Primzahlen sind natürliche Zahlen grösser als 1, die nur durch 1 und sich selber restlos teilbar sind, sonst aber durch keine andere natürliche Zahl. Die ersten Primzahlen sind also 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29 , . . .)

Euklids Beweis dieses Satzes entzückt, wenn der amerikanische Mathematiker William Dunham recht hat, jeden zu Tränen, der einen Hang zur Mathematik hat: Nehmen wir an, es gäbe nur endliche viele Primzahlen, etwa 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23 und 29, nach 29 gäbe es keine einzige mehr, in welcher Höhe auch immer. Dann multiplizieren wir all diese Primzahlen miteinander, und am Ende addieren wir noch 1. So erhalten wir die Zahl 6 469 693 231. Nehmen wir weiter an, zwei Personen, Alice und Bob, seien diesen Ausführungen bisher gut gefolgt, und jede dieser Personen zieht jetzt eine korrekte Schlussfolgerung: Alice folgert: «Die Zahl 6 469 693 231 ist sicher keine Primzahl, denn sie ist viel grösser als 29, und 29 ist ja die letzte Primzahl.» Bob dagegen folgert ebenso korrekt: «Wenn ich 6 469 693 231 durch eine der Primzahlen 2, 3, 4, (. . .), 29 teile, so geht das nie auf; es bleibt immer Rest 1. 6 469 693 231 ist also durch keine Primzahl teilbar, und deshalb muss 6 469 693 231 selber eine Primzahl sein.» Die Tatsache, dass zwei Personen auf völlig korrektem Weg zu völlig widersprüchlichen Aussagen gelangen können, zeigt, dass die Annahme, 29 wäre die letzte Primzahl, falsch gewesen sein musste. Und ebenso lässt sich zeigen, dass jede nur erdenkliche Primzahl nicht die letzte sein kann; daher gibt es unendlich viele.

Euklid fasste nicht nur die gesamte damals bekannte Mathematik zusammen und ordnete und ergänzte sie wesentlich, er verhalf ihr auch zu einer ganz neuen und revolutionären Form. Er machte in überwältigender Weise deutlich, dass die Mathematik eine Art Hochhaus ist, in dem jede Etage in ganz strenger Weise auf den darunterliegenden Etagen aufgebaut ist und die aber alle auf einem Fundament ruhen, das aus unbeweisbaren Prinzipien und Abmachungen besteht. Selbst die strengste und sicherste aller Wissenschaften ruht letztlich auf Vermutungen, die zwar plausibel, aber nicht beweisbar sind. Die Mathematik ist also nur ein (allerdings unbestritten erfolgreicher) Weg, die Welt zu sehen, und es ist unmöglich, in ihr ganz auf Elemente des Glaubens zu verzichten. Sie liefert unendlich viel Brauchbares, aber nichts von dem ist wahr an sich, alles ist immer nur wahr relativ zu den Abmachungen, die die Beschaffenheit des Fundamentes regeln.

Diese Einsicht ist so fundamental, dass sie das menschliche Denken ganz wesentlich geprägt hat; und wir verdanken sie zuallererst einem 2300 Jahre alten Buch, das es nur mit ganz viel Glück geschafft hat, in die heutige Zeit zu überdauern.