Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
09.09.2008: Zähmung der widerspenstigen Unendlichkeit

In einem fernen Land, das eine Staatsschuld von 120 Milliarden angehäuft hatte, anerbot sich ein steinreicher Mensch, dem Staat unter die Arme zu greifen. Er versprach, der Staatskasse monatliche Zahlungen zukommen zu lassen, und zwar 20 Milliarden sofort und dann an jedem Monatsende die Hälfte des Vormonates. Es ist klar, dass im Parlament dieses Landes sofort helle Begeisterung ausbrach. Die Parlamentarier wollten wissen, wie lange es dauern werde, bis der Staat wieder schuldenfrei sei. Ein Stimmenzähler, dem man gute Rechenkünste unterstellte, wurde gebeten, die Frage zu beantworten. Er zog also einen Bogen Papier hervor und begann, laut zu rechnen: «20 Milliarden sofort, und danach monatlich jeweils die Hälfte des Vormonates. Das bedeutet, dass im ersten Jahr die folgenden Zahlungen eingehen werden: 20 Milliarden, dann 10 Milliarden, dann 5 Milliarden, dann 2500 Millionen, dann 1250 Millionen, dann 625 Millionen und so weiter, und am Ende des zwölften Monats . . .» Er stockte, dann fuhr er langsam fort: «Weitere 4,88 Millionen. » Ein Raunen ging durch den Saal, niemand hatte eine so bescheidene Rate nach nur zwölf Monaten erwartet. «Wenn man alles zusammenzählt», fuhr der Stimmenzähler fort, «ergibt das nur 39 Milliarden, 995 Millionen und 117 187.» Enttäuschung machte die Runde.

«Das kann doch nicht . . .», stammelte der Stimmenzähler und rechnete weiter. «Nach 24 Monaten würde bloss noch der Betrag von 1192 überwiesen, und wenn man alle Überweisungen der beiden ersten Jahre zusammenzählt, sind wir noch immer nicht ganz bei 40 Milliarden angekommen. » Hier endet die Geschichte, gerade noch rechtzeitig, denn sie hat kein Happy End. Selbst wenn die Zahlungen hundert Jahre lang geflossen wären, hätte die Summe aller Beträge noch immer nicht ganz 40 Milliarden ausgemacht und auch nach 1000 Jahren nicht und auch nach Milliarden von Jahren nicht; allerdings hätte die Nationalbank des Landes sich schon bald ausserstande gesehen, die Differenz zu 40 Milliarden durch eine Münze der Landeswährung auszudrücken, weil es keine Münzen mit so winzigen Werten gibt. Das klingt alles sehr merkwürdig, und es erstaunt Menschen immer wieder, dass ein bestimmter Wert nie überschritten werden soll, obwohl man (theoretisch unendlich lange) immer weitere Zahlen addiert. Und doch gibt es eine sehr einfache und elegante Erklärung dafür, von der die Mathematik schon lange profitiert:

Nehmen wir der Einfachheit zuliebe an, die erste Zahlung sei 1 Milliarde, die zweite eine halbe, die dritte ein Viertel, die vierte ein Achtel einer Milliarde und so weiter, und nehmen wir weiter an, die Zahlungen fliessen theoretisch unendlich lange, dann müssen wir also diese Summe berechnen: 1 + 1/2 + 1/4 + 1/8 + 1/16 + 1/32 + . . .

Das Problem sind die Pünktchen. Wir können nicht gut unendlich viele Zahlen zusammenzählen, und wir müssen uns lösen von der Vorstellung, dass die Summe unendlich gross sein wird, bloss weil man unendlich viele Zahlen addiert. Wir können diese Rechnung aber als einen Prozess anschauen, bei dem wir zuerst die Summe der ersten beiden, dann die Summe der ersten drei, dann die Summe der ersten vier Zahlen und so weiter bilden. Das heisst, wir rechnen zuerst 1+ 1/2, danach 1 + 1/2 + 1/4, danach 1 + 1/2 + 1/4 + 1/8 und so weiter und fragen nach dem Trend, nach dem zukünftigen Verhalten dieses Prozesses, danach, wohin er mit wachsender Anzahl Summanden strebt.

Die Abbildung zeigt sehr deutlich, was passieren wird. Das erste randvolle Glas steht für die erste Milliarde, danach enthält jedes weitere Glas exakt die Hälfte des vorherigen. Den obigen Prozess auszuführen, bedeutet, dass wir laufend Inhalte von Gläsern zusammenschütten müssen. Wir beginnen damit, dass wir den Inhalt des dritten Glases ins zweite umleeren; dann fasst das zweite Glas noch einen Viertel, was genau das Doppelte des vierten Glases ist. Der Inhalt des vierten Glases hat also sicher noch Platz. Wir leeren auch das vierte Glas ins zweite, welches nun noch zu einem Achtel leer ist, was genau das Doppelte des fünften Glases ist. Das fünfte Glas hat also auch noch Platz. Wir leeren auch das fünfte Glas ins zweite, welches nun noch zu einem Sechzehntel leer ist, was genau das Doppelte des sechsten Glases ist, und so weiter und so fort. Es wird klar, dass wir theoretisch unendlich lange fortfahren könnten, dass sich das zweite Glas zwar immer mehr füllen, dass es aber nie ganz voll oder gar überlaufen wird, weil es immer das Doppelte an Platz bietet, was wir neu hineinleeren müssen. Der Prozess steuert ganz eindeutig in Richtung von zwei vollen Gläsern, also dem Doppelten der ersten Zahl; daher wird der marode Staat nie mehr als 40 Milliarden einnehmen. Trotz der Unendlichkeit des Prozesses bleibt die Summe im Endlichen, besser noch: Wir können die Unendlichkeit zähmen, indem wir nachweisen, dass nach Ablauf des gesamten unendlichen Prozesses exakt die Summe 2 erreicht sein wird. 1 + 1/2 + 1/4 + 1/8 + 1/16 + 1/32+ . . . = 2

Die Frage nach dem Trend, nach dem zukünftigen Verhalten eines solchen unendlichen Prozesses, tauchte in der Mathematik mit ungeheurer Wucht auf, als man vor etwa 400 Jahren damit anfing, die Geschwindigkeit bewegter Objekte zu untersuchen, anfangs von Planeten und Pendeln. Es zeigte sich, dass zur Berechnung der Geschwindigkeit ein solcher unendlicher Prozess überwunden werden musste. Dass das gelang, hat die Mathematik in ein neues Zeitalter katapultiert. Seither ist genau diese Art von Zähmung des Unendlichen beteiligt bei fast allen modernen wissenschaftlichen Berechnungen, sei es bei Licht oder Ton, bei Elektrizität oder Magnetismus, bei strömenden Flüssigkeiten oder dem Design von Flugzeugen.

Sie könnten, verehrte Leserinnen und Leser, Gefallen an der Frage finden, gegen welche Zahl wohl der folgende unendliche Prozess tendiert: 4 – 4/3 + 4/5 – 4/7 + 4/9 – 4/11 + 4/13– . . .