Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
26.08.2008:Die Zähmung des Internet

Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat jeder Leser und jede Leserin dieser Kolumne schon einmal eine Internet-Suchmaschine besucht und dort einen Suchbegriff eingegeben, ‚Mathematik’ vielleicht oder ‚Kykladen’ oder ‚Weine aus der Toskana’ oder ‚Brücken in Österreich’ oder ‚Gefahren des Piercings’ oder ‚Fahrplan der Jungfraujochbahn’, je nach Interesse und Geschmack. Meistens wird der Bildschirm schlagartig mit Adressen von Websites überspült, und im Hintergrund warten meist Tausende von Seiten darauf, nachrücken zu können.

Was mich immer verblüfft hat, ist die Tatsache, dass die nützlichsten Websites, diejenigen, die am treffsichersten meine Frage beantworten, meistens unter den ersten zehn oder zwanzig Einträgen dieser monströsen Liste zu finden sind. Das hat einen enormen Vorteil, da ich weder Lust noch Zeit habe, Tausende von Seiten zu prüfen, um herauszufinden, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten die Jungfraujochbahn fährt, bloss weil die Begriffe ‚Jungfrau’, ‚jung’, ‚Frau’, ‚Joch’, ‚Fahrplan’, ‚Plan’, ‚fahr’ Bausteine von Myriaden von Internetseiten sind. Und seit ich weiss, welcher Zaubertrick dafür verantwortlich ist, ist die Verblüffung einer stillen Bewunderung gewichen. Es ist die Mathematik, die hier zaubert, und der Trick ist wahrlich atemberaubend.

Zunächst einmal benutzt die Suchmaschine einen sog. Algorithmus. Dieses Wort heisst genau genommen nichts, und man folgte bei der Erforschung des Ursprungs dieses Wortes anfangs ganz falschen Spuren, annehmend, es müsse aus einem antiken griechischen oder lateinischen Wort hervorgegangen sein. Tatsächlich ist es aber durch lateinische Übersetzung aus dem Namen des arabischen Mathematikers Al-Khwarizmi entstanden, der um 800 n. Chr. im heutigen Usbekistan lebte. Während Algorithmus ursprünglich eine Rechnung im Sinne des Herrn Algorithmus meinte, ging der Bezug zu der historischen Person über die Jahrhunderte ganz verloren; zudem veränderte sich die Bedeutung des Wortes. Heute versteht man darunter eine klare, unzweideutige Abfolge von Anweisungen, was der Reihe nach getan oder gerechnet werden muss, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das Folgende beispielsweise ist ein Algorithmus:

1. Setzen Sie sich zusammen mit einer Tasse Kaffee und der Aargauer Zeitung vom 15. Juli 2008 an den Tisch.
2. Öffnen Sie die Zeitung auf der Seite 17.
3. Tun Sie nun abwechselnd Folgendes: Einen Abschnitt der Kolumne „Caffè Mathe“ lesen und einen Schluck Kaffee aus der Tasse trinken.
4. Wiederholen Sie dies so lange, bis entweder der Kaffee alle oder die Kolumne ausgelesen ist.
5. Falls zuerst die Tasse leer ist, lesen Sie den Rest der Kolumne. Falls zuerst die Kolumne ausgelesen ist, leeren Sie die Tasse in einem Schluck.

Diese Anweisungen sind klar, eindeutig und können in endlicher Zeit erledigt werden. Üblicherweise werden Algorithmen in Computerprogramme umgeformt, und sie sind heute überall auf der Welt im Einsatz: bei der GPS-Positionsbestimmung, bei der Abwicklung von Verkehrsflüssen, beim Sortieren oder Minimieren riesiger Datensätze, bei der Steuerung von Maschinen, bei der Verschlüsselung privater Daten, usw. Einen besonders raffinierten Algorithmus hat die Firma Google entwickelt; er heisst PageRank-Algorithmus und legt die Reihenfolge fest, in der sich nach meiner Sucheingabe die Websites auf meinem Bildschirm aufreihen.

Nehmen wir vereinfachend an, im Internet gäbe es bloss vier Websites, 1 – 4. In der Abbildung sind diese Websites durch Kreise dargestellt, und ein Pfeil zeigt an, dass eine Website einen Link zu einer anderen enthält. Beispielsweise enthält die Website 4 je einen Link auf die Websites 1 und 3, aber keinen auf die Website 2.

Dieselbe Situation kann durch eine sog. Matrix, hier G genannt, dargestellt werden. Zum Beispiel zeigt die vierte Zeile der Matrix, die für Website 4 steht, an, dass diese zwei Links enthält, wovon einer zur Website 1 (erste Spalte) und einer zur Website 3 (dritte Spalte) zeigt. Der Vorteil der Matrizen ist, dass die Mathematik Wege gefunden hat, mit ihnen zu rechnen. Sie können addiert, subtrahiert und multipliziert werden, und damit eröffnen sich ungeheure Möglichkeiten.

Die Firma Google baute eine solche Matrix auf, in der die Verlinkungssituation sämtlicher etwa 25 Milliarden Websites dieser Welt erfasst wird; die Matrix hat also etwa 25 Milliarden Zeilen und Spalten! Und sie nutzte die mathematische Möglichkeit, mit Matrizen rechnerisch umzugehen, indem sie einen Algorithmus kreierte, der mittels Matrixrechnungen jeder Website einen Rang (rank) zuordnet, welcher darüber entscheidet, in welcher Reihenfolge die Websites auf dem Bildschirm aufgelistet werden. Natürlich sind die genauen Details dieses Algorithmus eines der bestgehüteten Geheimnisse dieser Welt. Wir wissen aber wenigstens ungefähr, wie der Algorithmus abläuft. Und es ist klar, dass dazu Schwindel erregende Mathematik nötig; malen Sie sich nur einmal die Schwierigkeiten aus, die entstehen, wenn mit einem Zahlenmonstrum aus 25 Milliarden Zeilen und Spalten gerechnet werden soll...