Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
12.08.2008: Wie schnell ist exponentiell?

Hätte THOMAS MALTHUS recht gehabt, hätte die Menschheit im Jahr 1850 einen Kollaps von beispiellosen Ausmassen erlebt. Schon 1798 sah der britische Ökonom und Sozialphilosoph MALTHUS gigantische Hungersnöte in etwa 50 Jahren voraus, die die Erdbevölkerung drastisch dezimieren würden. Als Begründung rechnete er vor, dass die Menschheit exponentiell anwachse, während die Agrarproduktion nur linear gesteigert werden könne. Die Folge sei ein so dramatischer Nahrungsmangel, dass weite Teile der Erdbevölkerung kläglich verhungern müssten.

Exponentielles Wachstum ist tatsächlich höchst bedrohlich – oder überaus erfreulich, je nach Situation. Bakterien zum Beispiel vermehren sich unter günstigen Bedingungen exponentiell; das Wundbakterium Pseudomonas ist darum eine beständige Sorge der Chirurgen, weil es sich etwa alle 9.8 Minuten verdoppelt und offene Wunden infizieren kann. Andererseits vermehrt sich auch Geld exponentiell, vorausgesetzt, dass es nicht unter der Matratze gelagert wird, sondern der Wirkung eines konstanten Zinses ausgesetzt ist. Was aber bedeutet exponentiell genau?

Abb.: Die exponentielle Vermehrung von 1000.-- bei einer jährlichen 5%-Verzinsung während 100 Jahren

Eine Grösse wächst exponentiell, wenn sie in gleichen Zeitabständen immer mit derselben Zahl multipliziert wird. Beginnen wir zum Beispiel mit der Zahl 1 und sorgen für eine Verdoppelung (also Multiplikation mit 2) in gleichen Zeitabschnitten, so entsteht das folgende beeindruckende Wachstum: 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024, 2048, 4096, 8192, 16384, ... Beginnen wir mit einem Geldbetrag von 1000.-- und setzen ihn jährlich einer 5%-Verzinsung aus, so wird der Betrag jährlich mit derselben Zahl 1.05 multipliziert. Das führt anfangs (leider) zu einem eher unspektakulären Anstieg, bei genügend Zeit und Geduld aber zu einem Wachstum, das alle Erwartungen sprengt. In hundert Jahren etwa würden sich die 1000 Franken zu 131'500 Franken entwickelt haben (vgl. Abb.)!

Vielleicht waren Sie selber schon mal in einen exponentiellen Prozess verwickelt, falls Sie nämlich einmal einen Kettenbrief erhalten haben mit der Aufforderung, ihn an zehn Bekannte weiterzusenden. In diesem Fall würde die Anzahl Briefe mit jedem Schritt verzehnfacht. Das exponentielle Wachstum wäre so enorm, dass nach zehn Schritten jeder Erdbewohner einen Brief erhalten hätte. Natürlich wären schon lange vorher viele Personen mit vielen Briefe von allen Seiten bombardiert worden, so dass der Prozess (und mit ihm die naive Hoffnung einiger Leichtgläubiger) zusammengebrochen wäre.

Besonders eindrücklich wird exponentielles Wachstum, wenn wir folgendes Gedankenexperiment wagen: Wir beginnen mit einem wirklich riesigen Bogen Papier der Dicke 0.1 Millimeter und falten den Bogen fortlaufend in der Mitte. Mit jeder Faltung verdoppelt sich die Dicke, so dass der gefaltete Bogen nach der ersten Faltung 0.2 Millimeter, nach der zweiten 0.4 Millimeter, nach der dritten 0.8 Millimeter dick ist, usw. Wenn wir immer weiter falten (könnten), nach wie vielen Faltungen wird dann der Bogen so dick sein, dass der gesamte Raum zwischen der Erde und dem Mond ausgefüllt wäre? Abgesehen davon, dass ein Vorgang dieser Art ganz und gar unmöglich wäre – bereits nach sieben Faltungen wäre der Bogen so sperrig, dass er sich einer weiteren Faltung mit aller Kraft widersetzen würde – ist es doch überaus verblüffend zu hören, dass nur 42 Faltungen ausreichen würden, um den Mond zu erreichen. Der exponentielle Prozess übertrifft alle Vorstellungen, und das billigste Raumfahrtprogramm wäre offenbar Papierfalten.

MALTHUS hatte schon recht, dass ein lineares Wachstum gegenüber einem exponentiellen sehr schnell hoffnungslos im Rückstand sein wird. Lineares Wachstum bedeutet, dass in gleichen Zeitabständen immer dieselbe Zahl dazugezählt (addiert) wird. Beginnen wir also wieder mit der Zahl 1 und addieren in festen Zeitintervallen immer 2, so entsteht das lineare Wachstum 1, 3, 5, 7, 9,11, 13, ... Und das ist verglichen mit 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64,... ein Schwächling und absolut chancenlos. Hätte sich die Menschheit tatsächlich exponentiell und die Nahrungsproduktion bloss linear vermehrt, so wäre der Kollaps unausweichlich gewesen. Womit MALTHUS nicht rechnete, war (unter anderem) die Entwicklung von Kunstdüngern und eine beispiellose Mechanisierung, welche die Prozesse der Nahrungsmittelproduktion viel stärker als nur linear zu steigern vermochten.

Auch heute befindet sich die Menschheit in einer Situation, in der Warnungen im Sinne von MALTHUS durchaus angebracht sind. Der Verbrauch an Ressourcen wächst ungeheuerlich, und die Erschliessung neuer Ressourcen scheint damit nicht Schritt zu halten...