Café Mathe - eine Kolumne in der Aargauer Zeitung
29.07.2008: Fussbälle im Chemielabor

Haben Sie schon einmal einen Fussball zusammengenäht? Die wenigsten Menschen tun so etwas, aber wir haben alle schon Fussbälle gesehen und mit ihnen gespielt und in dem Moment, in dem ein solcher im Tor landet, entweder freudige Erregung oder schäumende Wut in uns gespürt. Und doch könnten die wenigsten Menschen einen Fussball richtig zeichnen. Ein Fussball ist aus genau zwölf fünfeckigen und zwanzig sechseckigen Lederstücken zusammengenäht. Anders geht’s nicht. Aber wer weiss das schon?

Einer, der es genau wusste, war LEONHARD EULER, der zweifellos bedeutendste Schweizer Mathematiker. Die Schweiz hat ihrem Stolz auf EULER schon auf vielfältige Weise Ausdruck verliehen, unter anderem, indem sie zwischen 1975 und 1995 die 10-Franken-Noten mit seinem Bild schmückte. EULER war von Mathematik ebenso begeistert wie besessen. Den Satz „Kommt und kostet mit mir die Wonnen dieser Wissenschaft!“ dürfte man heute kaum je aus dem Mund eines Teenagers hören; der jugendliche EULER aber sprach ihn allen Ernstes zu seinen Kommilitonen. Später erfand der 1707 in Basel geborene EULER soviel Mathematik, dass man damit – in Buchform – mehrere Meter überspannen könnte. Fast alles davon ist heute von unschätzbarem Wert. Die Mathematik EULERS hilft, optische Linsen zu berechnen, stabile Brücken zu bauen, optimale Schiffsrümpfe zu konstruieren, Computerchips zu optimieren, Daten abhörsicher im Internet zu senden und vieles mehr. Und sie ermöglicht es auch, genauer über Fussbälle nachzudenken.

EULER fand heraus, dass für jeden Polyeder (also jeden Körper, der von irgendeiner Kombination aus Dreiecken, Vierecken, Fünfecken usw. begrenzt ist) eine universelle Formel gilt: Wenn man die Ecken zählt und davon die Anzahl Kanten wegzählt und dann die Anzahl Flächen wieder dazuzählt, dann erhält man genau 2. Immer. Zwingend. Denken wir uns beispielsweise einen Würfel. Ein Würfel hat acht Ecken, zwölf Kanten und sechs Flächen. Rechnen wir Anzahl Ecken minus Anzahl Kanten und dann plus Anzahl Flächen, also 8-12+6, so erhalten wir tatsächlich 2, wie behauptet.

Auch ein Fussball ist ein Polyeder, für ihn gilt also dieselbe Euler’sche Formel. Benutzt man sie und füttert man sie mit ein paar offensichtlichen Zusammenhängen (wie etwa, dass an jeder „Ecke“ des Fussballs genau drei Kanten zusammenstossen), so lässt sich leicht nachrechnen, dass ein Fussball nur aus zwölf Fünfecken und zwanzig Sechsecken zusammengenäht werden kann, während jede andere Kombination zu einem verbeulten und damit unbrauchbaren Ball führen würde.

Der Fussball ist keine menschliche Erfindung. Zwar reicht die Geschichte des menschlichen Fussballs bis ins dritte vorchristliche Jahrhundert zurück, als in China ein fussballähnliches Spiel namens Ts’uh-küh gespielt wurde. Trotzdem sind Fussbälle sehr viel älter und keineswegs menschlichen Ursprungs. Sind kommen als Kohlenstoffmoleküle in der Natur vor!

Es ist schon lange bekannt, dass Kohlenstoff in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen auftritt, als weicher, schmierbarer Graphit im Bleistift und als extrem harter Diamant in Ihrem Ring oder dem Ring Ihrer Frau. Dass es noch weitere Formen gibt, wurde erst sehr spät entdeckt: Im Jahr 1990 wurde in Labors zum ersten Mal C60 hergestellt, ein Kohlenstoffmolekül aus 60 Atomen, das genau so aussieht wie ein winziger Fussball, bei dem an jeder seiner 60 „Ecken“ je ein C-Atom sitzt. Und weil seine Struktur an die Kuppeldächer des amerikanischen Architekten RICHARD BUCKMINSTER FULLER erinnert, nennt man es seither Fulleren oder Buckyball.

Die Entdeckung von Fullerenen ist nicht bloss von theoretischem Interesse; es zeigte sich nämlich, dass diese Moleküle einige aussergewöhnliche Eigenschaften besitzen. Dank dieser Eigenschaften ist es seither gelungen, bislang ungeahnte technische Innovationen zu entwickeln wie etwa bessere Schmierstoffe, hitzebeständige Werkstoffe, isolierende Materialien, erstklassige Leiter, usw. Erste fullerenhaltige Produkte haben sogar schon Marktreife erlangt.

Seit über 2000 Jahren beschert uns der Fussball ein sportliches Vergnügen. Dank Mathematik und Chemie landet er in neuster Zeit als mikroskopisch kleines Molekül auch noch technologische Volltreffer.